Terroristen «befreien» Syrien – der Westen applaudiert
Der Sturz Assads ist auch eine Chance. Aber der neue starke Mann, Abu Muhammad al-Jolani, ist ein steckbrieflich gesuchter Terrorist. Das scheint den Westen nicht zu kümmern. Er freut sich über die katastrophale Niederlage Russlands und des Iran.
Mehr oder weniger das gesamte europäische Spitzenpersonal hat den Sieg der Rebellen über Assad begrüsst und nicht den leisesten Vorbehalt über ihren terroristischen Hintergrund geäussert. Die Gruppe Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) ist aus der al-Nusra-Front hevorgegangen, die als eine der «wirksamsten und tödlichsten» Oppositionsgruppen der Al Kaida gegen Assad bekannt war (BBC). Auf ihren Führer al-Jolani, haben die USA ein Kopfgeld von zehn Millionen ausgesetzt. Die Gruppe ist auch in Russland auf der Liste der verbotenen Terrororganisationen.
Hay’at Tahrir al-Sham hat in den letzten beiden Wochen ein bewusst moderates Gesicht gezeigt. Ob die inklusive Politik nur ein Teil des seit 2015 betriebenen Rebranding ist und die islamistischen Wurzeln nicht neue autoritäre Triebe hervorbringen, wird sich noch weisen müssen.
In Syrien kreuzen sich viele politische Interessen, Mächte und Gruppen mit teils konträren Zielen, aber alle mit hoher Gewaltbereitschaft, wie die Vergangenheit zeigt. Ein echter runder Tisch, an dem auch die vielen religiösen Minderheiten ihren Platz haben, könnte den Weg in eine demokratische Zukunft ebnen.
Aber Syrien ist jetzt ein Vakuum, in dem die vielen Kräfte in und um das Land ihre Chance wittern und möglichst schnell Fakten schaffen wollen. Es müssen aber auch die staatlichen Leistungen für die Bevölkerung aufrechterhalten und gleichzeitig die korrupten Strukturen erkannt und zerschlagen werden, bevor sie sich mit ihrer Beute aus dem Staub machen. Eigentlich ein Fall für eine UNO, wenn sie denn in gutem Zustand wäre und noch ein bisschen Völkerrecht gelten würde.
Seit 22 Jahren steht Syrien auf der Liste der muslimischen Staaten, die die USA unter Bush angreifen wollten, wie der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber in Europa, der US-General Wesley Clark 2002 bekannt machte: zuerst der Irak, dann Syrien, Libanon, Libyen, Iran, Somalia und der Sudan. Überall, mit Ausnahme des Iran sind inzwischen Kriege ausgebrochen.
22 Jahre hat Syrien dem Druck stand gehalten, mit massgeblicher Hilfe von Russland und dem Iran. Aber jetzt, wo die beiden Schutzmächte mit ganz anderen Problemen beschäftigt sind – Russland in der Ukraine, der Iran im Südlibanon–, ging es rasend schnell und ohne Widerstand, wohl auch zur Überraschung aller Beteiligten.
Ende November gab die Türkei gemäss einem Bericht von Middle East Eye den Rebellen in Idlib grünes Licht für einen begrenzten Angriff auf die syrische Armee, die immer wieder Granaten in ihr autonom verwaltetes Gebiet feuerte. Am 27. November begann die Offensive. Am 29. November besetzten sie bereits Aleppo, mit 2,1 Mio. Einwohner die zweitgrösste Stadt Syriens.
Bis zum 6. Dezember nahmen sie ohne grossen Widerstand zahlreiche Städte ein, u.a. die strategisch wichtige Stadt Homs. Gemäss dem ehemaligen CIA-Mann Larry Johnson gab es einen Deal, nach dem Assad aufgeben und das Land verlassen sollte.
Aber einen Deal mit welchen Partnern? Wird die Türkei die Rolle Russlands und des Iran in Syrien übernehmen? Die drei trafen am Samstag in Doha.
Russische und syrische Luftangriffe blieben weitgehend wirkungslos. Am 7. Dezember standen die Rebellen vor Damaskus. Die Soldaten der Regierung in der Stadt tauschten offenbar ihre Uniformen mit Zivilkleidung und machten sich unsichtbar. Und am Morgen des 8. Dezember flog Assad in sein Asyl nach Moskau.
Jahrelange unerbittliche Kämpfe und die Abwanderung qualifizierter Menschen führte zu einem Zusammenbruch der staatlichen Institutionen, schreibt Russia today über die internen Faktoren, die zum Sturz der Regierung– «eine Tragödie» – führten. Armee und Bevölkerung sahen offenbar keinen Grund mehr, das Regime zu unterstützen.
Die externen Faktoren fasst die russische Plattform wie folgt zusammen:
Nachbarn wie Israel, die Türkei und Saudiarabien, die sich alle Vorteile von der Schwächung Syriens erhofften;
ein Schlachtfeld geopolitischer Rivalen;
dazu Terrorgruppen, die jenseits des Kriegsrechts agierten –
ein Druck, dem Syrien nur dank der Unterstützung Russlands und des Iran standhalten konnte.
Diese beiden Länder sind denn auch die eindeutigen Verlierer der Entwicklung der letzten Tage. Russland verliert seine Position im umkämpften Nahen Osten und seine Basis am Mittelmeer. Der Iran steht vor dem Scherbenhaufen seiner «Achse des Widerstands». Die Versorgung der bereits stark angeschlagenen Hisbollah via Syrien ist gekappt. Für die beiden Länder ist es eine mittlere Katastrophe, deren Auswirkungen sich erst noch manifestieren werden.
Ihre Hoffnung – oder ihr frommer Wunsch – ist jetzt noch, dass die von ihnen vertretenen Schichten und Gruppen in Syrien in einen demokratischen Prozess einbezogen werden. So sagte der iranische Präsident Pesehkian gemäss einer Mitteilung der Regierung, es sei wichtig, «die Einheit, Souveränität und territoriale Integrität Syriens zu bewahren und einen Dialog zwischen den verschiedenen syrischen Gruppen zu führen, um eine Verständigung über die Lage in ihrem Land zu erreichen.»
Das russische Aussenministerium schrieb, es sei an der Machtübergabe durch Assad nicht beteiligt gewesen, stehe aber «mit allen syrischen Oppositionsgruppen in Kontakt». Kein Wort von Terroristen, als die sie ja auch in Russland gelten und mit denen man jetzt einen Weg finden muss. Russland unterstützt ausdrücklich die Grundsätze der einstimmig angenommenen UNO-Resolution 2254. Aber die wurde in den ziemlich genau neun Jahren seit ihrer Verabschiedung nicht umgesetzt. Warum sollte sie jetzt plötzlich etwas gelten?
Am Sonntag meldete die russische Nachrichtenagentur Tass, die neuen Machthaber in Syrien hätten «die Sicherheit der russischen Militärbasen und diplomatischen Vertretungen auf syrischem Gebiet garantiert». Tags darauf relativierte Putins Sprecher Dmitry Peskov, es sei zu früh, um über die Zukunft der russischen Militärbasen zu sprechen. Das klingt nicht nach Überzeugung, die Positionen halten zu können.
Betroffen ist vor allem die Luftwaffenbasis Khmeimim im Norden des Landes. Der russische Marinehafen in Tartus wurde 1971 von der Sowjetunion gebaut. 2017 schloss Russland mit Syrien für die weitere Nutzung einen Pachtvertrag mit einer Laufzeit von 50 Jahren ab. Ob er honoriert wird, ist offen.
Grosse Gewinnerin des Umsturzes in zweifellos die Türkei, die die Gunst der Stunde nutzte: Russland und der Iran sind mit anderen Kriegen beschäftigt und die Regierung Biden befindet sich in der Endphase. Die Türkei will vermutlich in erster Linie Ruhe und Ordnung in Syrien, damit die drei Millionen Flüchtlinge wieder zurückkehren können.
Mit Sicherheit will sie auch verhindern, dass die Kurden im Nordosten Syriens einen eigenen Staat gründen, jetzt wo die Zentralgewalt definitiv verschwunden ist. In dieser Sache droht aber ein Konflikt mit den USA.
Auch eine Annexion der nördlichen Gebiete Syriens ist nicht ausgeschlossen. Es gibt nationalistische türkische Kreise, die behaupten, der 1923 abgeschlossene Vertrag von Lausanne, der das Ende des Osmanischen Reiches besiegelte, sei nach hundert Jahren abgelaufen. Jetzt soll man offenbar sogar über Grenzen diskutieren können.
Als Sieger betrachtet sich auch Israel, das bis zur Stunde Ziele in ganz Syrien bombardiert. Panzer und Truppen stiessen durch die von der UNO kontrollierte Pufferzone nach Syrien vor, wo nach den Worten von Verteidigungsminister Katz eine neue Sicherheitszone ohne «schwere Waffen und terroristische Infrastruktur» geschaffen werden soll. Dabei hatte Israel ja die Rebellen unterstützt.
Schon am Sonntag machte Premierminister Netanyahu seinen Anteil am Sieg gegen Assad geltend und streckte seine «Hand des Friedens» nach Syrien aus. Gleichzeitig verletzte Israel mit seinem Einmarsch in Syrien aber das Völkerrecht.
Ob dies vom weiteren Sieger von Assads Sturz, dem kollektiven Westen, kritisiert werden wird, bleibt abzuwarten. Der Sieg der Rebellen gegen die syrische Regierung wurde einhellig, zum Teil fast euphorisch begrüsst.
«Das Ende von Assads Diktatur ist eine positive und lang erwartete Entwicklung. Sie zeigt auch die Schwäche von Assads Unterstützern, Russland und Iran», sagte die EU-Spitzendiplomatin Kaja Kallas. «Der barbarische Staat ist gefallen. Endlich.» schrieb Emanuel Macron und der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis sagte in einem Interview: «Das Beispiel Syrien zeigt, dass Russland rausgeschmissen werden kann und nach Hause gehen wird.»
Die Sieger der Stunde sind zweifellos die Rebellen/Terroristen des HTS. Ohne langjährige Vorarbeit und ohne Unterstützung hätten sie Assad allerdings nicht vertreiben können. Ob sie nur Instrument in den Händen anderer sind oder aus eigener Kraft eine neue staatliche Ordnung aufbauen können, wird sich daran messen, wieviel Macht sie in der neuen Regierung sichern können.
Es wirken noch andere Kräfte im Land:
- die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee, die entscheidend zum Sieg beigetragen hat;
- die Freie Syrische Armee, 2011 von Ehemaligen der regulären Streitkräfte gegründet, aber seit 2016 ohne klare Identität und Struktur,
- die Syrischen Demokratischen Kräfte aus dem kurdischen Nordosten, die von den USA unterstützt werden,
- sowie kleinere bewaffnete Gruppen.
- Und dann gibt es noch die grosse, über alle Kontinente verteilte syrische Diaspora, allerdings ohne repräsentative Struktur.
Es müsste ein sehr grosser runder Tisch sein, damit alle diese Kräfte Platz finden. Es bräuchte eine konstruktive Supermacht, um diese Kräfte an einen Tisch zu bringen. Und es erforderte übermenschliche Vermittlungskünste, um dann zu einem Kompromiss zu kommen.
Die Chancen sind also minimal, dass so etwas gelingen kann. Einstweilen heisst der neue starke Mann Muhammad al-Jolani. Um sich gegen die vielen Herausforderer durchzusetzen, braucht er starke Unterstützung – von der er dann abhängig ist – oder Skrupellosigkeit, die er als Al-Kaida-Mann und als gesuchter Terrorist zweifellos gelernt hat.
In den westlichen Medien wird er als gemässigter Jihadist dargestellt. Dazu stutzte er seinen Bart und legte sich ein Selenski-Styling zu. CNN hat bereits ein ausführliches, völlig unkritisches Interview mit ihm geführt. Er ist offenbar der Mann, den man vorne hinstellt – vorläufig.
Ich bin versucht, auf ein kleines Wunder zu hoffen. Auf einer Reise 2010 erlebte ich Syrien als ein Land, in dem religiöse Gegensätze mit grösster Selbstverständlichkeit überwunden werden.
Sinnbild dafür ist die Umayyaden-Moschee in Damaskus. Ihr Kern ist eine antike christliche Basilika, die zu einer der weltweit grössten Moscheen ausgebaut wurde. Sie ist dem Enkel des Propheten Husayn ibn Ali geweiht, dem dritten Imam der Schiiten und ist deshalb ein wichtiger Pilgerort für die Schiiten, und das in einem sunnitischen Land!
In der Moschee befindet sich aber auch der von Christen viel besuchte Schrein Johannes des Täufers mit seinem Schädel als Reliquie. Schiiten, Sunniten und Christen in einem Gotteshaus – wo sonst ist so etwas möglich?
Ich erfuhr Syrien als sicheres Land mit einer überaus freundlichen Bevölkerung. Eine Berner Studentin in Damaskus erzählte, sie könne nachts um zwei bedenkenlos nachhause spazieren, was sie zuhause in Bümpliz nicht wagen würde.
Mein langjähriger Sehnsuchtsort und das erste Ziel der Reise auf dem Landweg war zwar Aleppo. Die Grossstadt im Norden Syriens war der dominierende Umschlagplatz für den Handel zwischen Indien und Europa, bis der Seeweg um Afrika erschlossen wurde. Der Basar von Aleppo war mit Gassen von zwölf Kilometern Länge der grösste überdachte Souk der Welt, bis er 2012 im Bürgerkrieg den Flamen zum Opfer fiel.
Und ganz besonders schlägt mein Herz für Damaskus, die älteste, immer noch besiedelte Stadt der Welt, ein Phänomen der Langlebigkeit, ganz im Gegensatz zu Bagdad, dem späteren Sitz der Kalifen, das in seiner Geschichte fast zwei Dutzend mal zerstört oder geplündert wurde.
Eine kleine Geschichte muss reichen: Täglich kaufte ich in Damaskus in einem kleinen Kiosk eine englischsprachige syrische Zeitung. Und als ich nach ein paar Tagen auf dem Weg zum Flughafen mit meinem Rollkoffer an dem kleinen Geschäft vorbeikam, eilte der über 80 Jahre alte Besitzer, mit dem ich mich fast nur in Zeichensprache verständigte, aus seinem kleinen Laden, umarmte mich und drückte mir einen stoppeligen Kuss auf die Wange.
Das haben Sie vielleicht auf einer Reise auch schon mal erlebt: Man trifft Freunde, die man noch nicht gekannt hat, stösst auf die interessantesten Orte – es stimmt einfach alles. Und man fragt sich: Ist die Welt so schön oder liegt alles in den Augen des Betrachters? Im Falle von Syrien gibt – oder gab es –gute Gründe, die Ursache im Land zu sehen.
Gut, das war 2010. Aber schon damals warnten mich Freunde, überhaupt hinzugehen. So fragte ich auf meiner Reise wirklich jeden nach seiner Meinung über Bashar al-Assad. Und buchstäblich jeder war des Lobes voll – für seine Sorge um das Land, seine Standfestigkeit gegenüber seinen Widersachern aus aller Welt und für seine Bescheidenheit. So erliess er eine Direktive, die sein Bild nur an öffentlichen Gebäuden erlaubte.
Aufgrund dieser Erfahrungen war ich immer «Assad-freundlich», nicht zuletzt auch, weil mir die jihadistischen Rebellen und die von den USA unterstützten Kräfte viel weniger behagten. Seither bevorzugte ich auch Analysen von unabhängigen Leuten vor Ort und betrachtete all die Artikel über Syrien von Journalisten, die nie dort waren oder nicht schreiben durften, was sie wollten, mit kritischer Distanz.
Die Geschichte Syriens muss uns auch nachdenklich stimmen – das Schicksal eines strategisch gut gelegenen Landes , das von den geopolitischen Kräften und den Methoden der hybriden Kriegsführung aufgerieben wird und dessen Leidensgeschichte vermutlich noch nicht zu Ende ist. Wahrscheinlich ist eine Aufteilung in Interessengebiete der Türkei, von Israel und der USA und einem Rumpf-Syrien. Warum nur lassen wir die Menschen ihr Schicksal nicht selbst bestimmen?
Der schnelle Umsturz in Syrien ist ein geopolitisches Erdbeben mit einer Verschiebung der Erdplatten im umkämpften Nahen Osten, deren Bewegung noch nicht zu Ende ist und die das Kräfteverhältnis zwischen den Grossmächten weiter verändern wird. Der 8. Dezember wird in die Geschichte eingehen.
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Christoph Pfluger
Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".
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