Und bist Du nicht willig… das elektronische Patientendossier

Sie wollen es nicht. Die Patientinnen und Patienten wollen es nicht und die Ärztinnen und Ärzte wollen es auch nicht: Das elektronische Patientendossier (EPD)

Die Digitalisierung trägt zu einer Verteuerung des Gesundheitswesens bei. Foto: Getty
Die Digitalisierung trägt zu einer Verteuerung des Gesundheitswesens bei. Foto: Getty

Zunächst war die Einführung des elektronischen Patientendossiers in der Schweiz freiwillig. Es wurde beworben, um es Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten schmackhaft zu machen; ohne grossen Erfolg. Inzwischen sind Akutspitäler, Rehabilitationskliniken, psychiatrische Kliniken, Pflegeheime und Geburtshäuser sowie seit 2022 neu zugelassene Arztpraxen verpflichtet, sich dem EPD anzuschliessen.

Wenn aber die Patienten kein elektronisches Patientendossier beantragen, muss der niedergelassene Arzt/Ärztin die Krankenakte auch nicht entsprechend einem elektronischen Patientendossier führen. So kommt es, dass viele niedergelassene Ärztinnen und Ärzte bis heute ihre Daten handschriftlich oder elektronisch gelagert in ihren Praxen aufbewahren; ein sicheres Verfahren, besonders die handschriftlichen bzw. nicht elektronisch gelagerten Daten.

Jetzt ist neu im Gespräch, dass die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte automatisch ein elektronisches Patientendossier für ihre Patientinnen und Patienten einführen müssen; es sei denn der Patient oder die Patientin leistet Widerspruch. (dazu später)
Dabei gibt es gute Gründe, das elektronische Patientendossier abzulehnen. Bereits im Jahre 2018 habe ich in einem Schreiben an die FMH (Warum das elektronische Patientendossier nicht eingeführt werden sollte?) darauf aufmerksam gemacht, dass die ersten Daten des im Jahre 2004 von der Bush-Administration in den USA innerhalb eines 10-Jahresplanes eingeführten interoperablen Electronic Health Record Systems folgende Ergebnisse zeigen:

Es bilden sich keine Kostenreduktionen durch die Einführung des elektronischen Patientendossiers ab. Im Gegenteil; mit der Einführung würden weitere Kosten drohen. (1) Die Autorin dieser Studie Dunlop Laura macht darauf aufmerksam, dass die Anschaffungskosten und die Unterhaltung dieser Systeme für die Spitäler teuer und aufwändig sind und der Kostenzuwachs durch die Einführung des elektronischen Patientendossiers unübersehbar sei.

Dies hat sich inzwischen bestätigt. In einem Beitrag im JAMA Forum aus dem Jahre 2018 (2) bildet sich ab, dass sich die Hoffnungen auf eine Kostenreduktion durch die Einführung des Health Information Technology for Economic and Clinic Health Law 2009 in den USA auf eine Kostenreduktion nicht erfüllt haben. Anders als erhofft, zeige die Health Information Technology unter denjenigen US-Spitälern, die sich dieser Technologie angeschlossen haben, fünf Jahre nach der Implementation keine Kosteneinsparungen. Eine Studie über die EHR Implementation in einem Pilotprogramm in Massachusetts fand heraus, dass die durchschnittlich projektierte Fünfjahresrendite negativ war mit einem Verlust von Dollar 44 000 pro Arzt. Eine Untersuchung von Tseng Philipp et al. kommt zu vergleichbaren Ergebnissen. (3)

An dieser Stelle sei darauf aufmerksam gemacht, dass die Digitalisierung selbst eher zu einer Verteuerung des Gesundheitswesens beiträgt und z.B. mit dafür verantwortlich ist, dass die Krankenkassenprämien in der Schweiz in die Höhe schiessen.

Bezogen auf die USA machten Tseng Phillip et al. in einem Beitrag im JAMA 2018 darauf aufmerksam, dass bis zu 62% der hohen Administrativkosten im Gesundheitssystem der USA (25-31% der Gesamtkosten) verursacht werden durch Rechnungsstellung und die damit verbundenen versicherungsbezogenen Aktivitäten.

Der Wechsel von der einfachen Rechnungstellung zur Integration der Administrativkosten und der Rechnungstellung in ein elektronisches Patientendossier hat nicht zu erhofften Kostenreduktionen geführt. Die Tendenz geht in die andere Richtung. Auch hier sprechen die Studienbelege dafür, dass die Digitalisierung selbst ein treibender Faktor der Kostensteigerungen ist. (4)

Ein praktisches Beispiel aus der Schweiz liefert die Tatsache, dass Daniel Rüegg, der 34 Jahre lang als Präsident und Geschäftsführer die Krankenkasse Turbenthal führte, eine Krankenkasse mit 400 Versicherten und einer Krankenkassenprämie von im Jahre 2018 260 Franken (!) pro Monat auf Geheiss des Verwaltungsgerichtes im Jahre 2018 seine Krankenkasse schliessen musste. Er musste schliessen, nachdem das Bundesamt für Gesundheit BAG die Krankenkasse Turbenthal mehrfach aufgefordert hatte ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen, was vor allen Dingen bedeutete, dass Daniel Rüegg ein elektronisches Datensystem hätte einführen müssen.

Eine solche Einführung hätte laut Daniel Rüegg die Verwaltungskosten um 65% ansteigen lassen und ein Ende der günstigen Krankenversicherung bedeutet. Daniel Rüegg schloss seine Krankenversicherung. Wenn Sie Genaueres wissen wollen, klicken Sie den Link zu folgendem Beitrag an: «Steigende Krankenkassenprämien. Muss das sein?» von Daniel Rüegg und der Referentin vom 26. Januar 2024.

Es wird geltend gemacht, dass sich mit der Einführung des elektronischen Patientendossiers die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessere, weil man u.a. unnötige Doppeluntersuchungen etc. eher vermeiden könne. Diesbezüglich ist die gegenwärtige Studienlage ausgesprochen mager. Das liegt vor allen Dingen daran, dass die verschiedenen Studien unterschiedliche Variablen bewerten, was überhaupt als Verbesserung des Gesundheitswesens zu beurteilen ist. Die einen z.Bsp. betrachten es als Verbesserung des Outcomes, wenn leitliniengerechte Krankengeschichteneinträge gemacht werden. (5)

Die anderen beurteilen die Patientenzufriedenheit im Hinblick auf die Verschreibung elektronischer Rezepturen. Wieder andere betrachten eine Verringerung der Aufenthaltsdauer von Hospitalisationen in toto als Ausdruck einer qualitativen Verbesserung im Gesundheitswesen. Z.B. weist Deepa Wani von der Universität of Texas at San Antonio im Juni 2018 darauf hin, dass sich die allgemeine Hospitalisationsdauer um 3% gesenkt habe; dies bei Patienten, die sich einer Behandlung von Spitälern mit einem an die Bedingungen speziell angepassten implementierten, elektronischen Patientendossier unterzogen hätten im Vergleich zu Patienten in Spitälern, die ein komplettes EHR routinemässig übernommen und angewendet hätten, wobei die Magnitude sich vergrössere je komplexer das Krankheitsbild der Patienten sei. (6)

Die aus den USA kommende Datenlage zeigt also Daten an, aus denen nicht geschlossen werden kann, dass die Einführung des elektronischen Patientendossiers eine bessere Patientenversorgung zur Folge hat.

Nun sind die Daten aus den USA, was die Patientenversorgung angeht nicht grundsätzlich 1:1 übertragbar auf hiesige Verhältnisse. Aussagekräftiger ist unter der mageren Datenlage eine umfassende Untersuchung von von Wedel Philip et al. aus dem Jahre 2022 aus Deutschland. Die Autoren untersuchten eine Stichprobe aus total 383 Spitälern in Deutschland im Hinblick auf eine Verbesserung von klinischen Ergebnissen und Patientenzufriedenheit durch die Einführung des Electronic Health Record System bzw. der Health Information Technology. (7)

Daten, um die Qualität der Behandlung zu messen, wurden den Daten des Forschungsinstitutes der Deutschen Allgemeinen Ortskrankenkasse entnommen, die verantwortlich ist für die zentrale Kalkulation von risikoangepassten Ergebnisdaten, die auf einer Qualitätssicherung mit Routinedaten beruhen. Es wurden Daten bezüglich Behandlungsergebnisse bei elektiven Eingriffen (Wahleingriffe) und aus der Notfallmedizin erhoben. Zusätzlich wurden Zufriedenheitspatientenfragebögen untersucht. Konkret wurde(n) bei elektiven Eingriffen die Behandlungsqualität/die Behandlungsergebnisse nach Implantation einer Hüftendoprothese infolge Coxarthrose erforscht und in der Notfallmedizin die durchschnittliche Risk Adjusted 30 Tage standardisierte Mortalitätsrate bei Patienten mit Schlaganfall oder Myocardinfarkt (Herzinfarkt) erhoben.

Die Analysedaten zeigen keinen signifikanten Effekt der Health Information Technology oder des Electronic Health Recordsystems auf die klinischen Ergebnisse oder auf die Patientenzufriedenheit. Darüber hinaus zeigten Spitäler mit einem höheren Patientenvolumen gar eine Verschlechterung in den Behandlungsergebnissen der Notfallbehandlung. Bei der Analyse von elektiven Eingriffen zeigte sich ebenfalls kein signifikanter Effekt im Hinblick auf die Behandlungsqualität durch die Einführung von EHR oder HIT, wobei kleinere Spitäler die besseren Ergebnisse aufwiesen. Darüber hinaus kamen die Autoren zum Ergebnis, dass die Einführung von mehr Technologie im Aufnahmeprozedere der Spitäler eine Abnahme der Patientenzufriedenheit zur Folge hatte.

Zusammenfassend kommen die Autoren zum Schluss, dass die Einführung der Health Information Technology keinen signifikanten Effekt hat weder auf die klinischen Behandlungsergebnisse noch auf die Patientenzufriedenheit.

Bereits im Jahre 2007 hatte Laura Dunlop darauf aufmerksam gemacht, dass das Electronic Health Records System schwerwiegende Auswirkungen auf die ärztliche Schweigepflicht und eine Beeinträchtigung des Vertraulichkeitsprinzips zur Folge haben können; dies insbesondere im Hinblick auf das grundlegende Freiheitsrecht auf „Privatsphäre“. (8)

In der Schweiz steht zur Diskussion, dass dem Patienten, der Patientin ein Widerspruchsrecht eingeräumt werden könne, wenn er/sie nicht wolle, dass ein elektronisches Patientendossier angelegt wird. Hierzu ist zu sagen, dass die persönlichen medizinischen Daten zu höchst vertraulichen Daten gehören, über die allein der Patient bestimmen kann. Dies impliziert, dass er/sie ohne jede Formalität davon ausgehen darf, dass wenn er zu einem Arzt/einer Ärztin geht, die Daten ohne wenn und aber vertraulich behandelt werden und nicht in einem Server abgelegt werden, es sei denn, der Patient will explizit die Lagerung der Daten in einem Server haben.

Die proklamierte Widerspruchsmöglichkeit spricht meines Erachtens unseren freiheitlichen Grundlagen Hohn. In einem freiheitlichen demokratischen Staat gehört die Privatsphäre dem Bürger und der Bürgerin. Er muss sie nicht gegenüber irgendjemandem geltend machen. Das, was schon bei der Einführung der Organspende bedauerlicherweise geltendes Recht erlangt, soll nun auch geltend gemacht werden bezüglich medizinischer, höchst persönlicher Daten des Bürgers und der Bürgerin? Das ist m.E. eine Umkehr des Freiheitsprinzips.

Genauso wenig wie ich meinen Mitbürger/meine Mitbürgerin explizit darauf aufmerksam machen muss, dass ich von ihm weder geschlagen noch bedroht werden will, andernfalls ich ihm automatisch die Legitimation gebe, dies zu tun, genauso wenig muss ich spezifisch geltend machen, dass meine Daten höchstpersönlich gesichert und vertraulich beim Arzt und nicht in einem Server hinterlegt sind.

Denn elektronisch auf einem Server abgelegte Daten sind niemals so sicher wie persönlich gelagerte Daten. (5.56 Warum ist das Arztgeheimnis so wichtig? (Teil 4)) (6.18 Warum ist das Arztgeheimnis so wichtig? (Teil 4)) (Cybersicherheit im Gesundheitswesen | PwC Switzerland) (Informationsplattform von eHealth Suisse gehackt) (Tausende Schweizer Gesundheitsdaten landen nach Hackerangriff im Darknet)

Neben einer angemessenen Qualität der körperlichen Behandlung sind Vertrauen, Erwartung und Hoffnung, das Gespräch, die Art und Weise der Übermittlung und die Begleitung bezüglich Diagnose und Therapie für einen guten Heilungsverlauf entscheidend und bestimmen die Behandlungsqualität. (9, 10) Das elektronische Patientendossier hat diesbezüglich nichts beizutragen. Es verursacht zudem wahrscheinlich eine weitere Aufblähung der Gesundheitskosten. Anhand der mir zur Verfügung stehenden Arbeiten gehe ich davon aus, dass das elektronische Patientendossier in erster Linie Kontrolle und ein riesiges Geschäft mit der Technologie zur Folge hat. Es ist nun an den Bürgern und Bürgerinnen, einer weiteren Digitalisierung unseres Lebens da entgegenzutreten, wo sie die Grundlagen unserer Freiheit und Privatsphäre sowie unsere seelische und körperliche Gesundheit bedroht.


Quellen:

(1) Dunlop Laura; Electronic Health Records: Interoperability Challenges Patients Right to Privacy. 3 Shidler Journal for Law, Commerce + Technology 16 ; April 6 2007, S. 1-11.
(2) Pearson Elsa MPH, Austin Frakt PHD; The JAMA Forum; Administrative Costs and Health Information Technology; 14. August 2018.
(3) Tseng Phillip et al.; Administrative Costs Associated With Physician Billing and Insurance-Related Activities at an Academic Health Care System ; JAMA 2018, 319(7) ; S. 691-697.
(4) Ebenda.
5) Burke Harry B. et al.; Electronic health records improve clinical note quality ; Journal of Medical Information Association ; 2015 ; Januar 22(1): S. 199-205.
(6) Deepa Wani; Does the meaningful use of electronic health records improve patient outcomes ? Juni 2018 ; Journal of Operations Management 60(4) DOI: 10.1016/j.jom.2018.06.003.
(7) von Wedel Philip et al.; Effects of Hospital Digitization on Clinical Outcomes and Patient Satisfaction : Nationwide Multiple Regression Analysis Across German Hospitals ; Journal of Medical Internet Research ; 2022 ; Nov 24(11) : e40124.
(8) Dunlop Laura; Electronic Health Records: Interoperability Challenges Patients Right to Privacy. 3 Shidler Journal for Law, Commerce + Technology 16 ; April 6 2007, S. 1-11.
(9) Benedetti Fabrizio; The Patient’s Brain; The Neuroscience behind the Doctor-Patient Relationship ; Oxford University Press 2011.
(10) Wyler van Laak Catja; Die Arzt-Patient-Beziehung in Zeiten gesellschaftlicher Herausforderungen. Was zählt? Eine Annäherung unter Berücksichtigung der sozialen Neurowissenschaften; Paramon Verlag; 2020.

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