Und sie machen uns glücklich bis ans Ende ihrer Tage

Märchen sind echte Gegenwelten. Das Gute gewinnt (fast immer). Während im Alltag das Glück scheinbar nur im Schweisse unseres Angesichts zu haben ist, öffnet der Märchenzauber alle Türen – wenn auch nicht auf Anhieb. Eine Einführung in die Ausstellung «Märchen, Magie und Trudi Gerster» im Landesmuseum Zürich.  


Magischer Zwilling der Ratio. Märchen zählen zu den grossen Erzählungen der Kulturgeschichte und finden sich in allen Epochen und Kulturkreisen. Märchen sind der magische Zwilling der Vernunft. Sie entwerfen Wunderwelten. Und weil wir das wissen, sind Märchen auch keine Fluchtphantasien, wie fälschlicherweise oft behauptet, nicht eskapistische, sondern echte Gegenwelten zu unserem «Jammertal» der alltäglichen Zwänge. Die frei erfundene Handlung eines Märchens spielt in unbestimmter Zeit an unbestimmtem Ort. Märchen erreichen mühelos, was wir uns hienieden immer noch mühsam erkämpfen. Für unsere Reisen durch die Luft brauchen wir klobige Kerosinschleudern, keine geflügelten Pferde: Unser Tod ist endgültig – da hilft kein Prinzenkuss nach hundert Jahren Schlaf. Bevor wir als Kinder normal gestellter oder gar armer Eltern in einem Schloss wohnen können, liegt ein weiter Weg vor uns – meist ohne Aussicht auf Erfolg. Märchen hingegen erfüllen uns Phantasien, Träume und Wünsche: von der Verwandlung Mensch-Tier-Mensch, von magischen Gegenständen, sprechenden Pflanzen und Tieren, vom wundersamen gesellschaftlichen Aufstieg oder eben vom ewigen Leben. Kein Yogakurs, keine Buddhaanbetung und keine Blütentherapie sind nötig, um das zu erfahren. Sich in einem Märchen treiben zu lassen, genügt zur Erreichung der Utopie.

Was Märchen sind. Die Erzählung entfaltet sich zumeist in drei Schritten: Einstieg, Herausforderung, glückliches Ende. Das Entlein wird hässlich geboren. Alle quälen es, schon beim Lesen oder Anhören des Märchens ist es kaum auszuhalten, wie unerträglich gemein alle zu diesem «Outlaw» sind. Seine Not ist unerträglich, lieber will es sterben als weiterzuleben. Im Wasser sieht es plötzlich erstmals sein Spiegelbild und erkennt: Ich bin ja gar kein hässliches Entlein, sondern ein königlicher Schwan.
Märchenhelden sind gutherzige Aussenseiter. Sie sind und bleiben über die ganze Handlung hinweg gut. Sie wandeln sich nicht. Märchen sind also keine Entwicklungsromane, in denen die Heldin oder der Held innerlich reift und schliesslich nächsthöhere Ringe der Weisheit erreicht. Im Märchen gilt: Durch Zauber und Wunder erfüllt sich das Schicksal der Heldinnen und Helden. «Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.» Die Bösen aber stürzen brutal ins Verderben oder in den Tod.

Was sie nicht sind. Märchen sind keine Mythen, also Erzählungen über die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Aussermenschlichen, dem Göttlichen. «Wie entstand die Welt, wo kommen wir her?» Der Mythos weiss es, das Märchen interessiert sich nicht einmal für diese Frage, geschweige denn die Antwort. Der Mythos weiss, wie die Schweiz entstand, dem Märchen ist das schnurz.
Märchen sind auch keine Legenden oder Sagen. Legenden berichten von Heiligen oder Märtyrern, sie erzählen von vergangener Zeit in einer bestimmten Epoche und verbinden das Heldenhafte mit dem Sakralen. Sagen wiederum erzählen meist Geschichten von Menschen, die dem Ausserordentlichen oder Unheimlichen begegnet sind – zum Beispiel einem Bergmanndli in den  Walliser, Bündner oder Glarner Alpen. Sagen spielen in historischer Zeit und meist an einem bestimmten Ort – etwa der Teufelsbrücke.
In der Nähe des Märchens flaniert die heute so erfolgreiche Fantasy-Literatur durch die Medien. Aber auch sie ist anders, erzählt sie doch meist vom Sieg des Guten über das Böse – die Suche nach der idealen Weltordnung. Das Märchen ist da ehrlicher und transparenter. Seine Botschaft: «Ich erzähl dir jetzt eine Mär, die nichts mit deiner Wirklichkeit zu tun hat. Ich stehe ausserhalb des Irdischen. Ich bin mir selbst das Wunder. Ich genüge mir selber.»

Irrtümer und Missverständnisse. Der Rückgriff auf das Früher, das schon seit Urzeiten immer besser gewesen sein soll, wird im Kampf aller Medien um unsere Aufmerksamkeit gerne herangezogen. Früher, ja früher, da habe man Märchen noch ausschliesslich erzählt und damit mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Stimmt so nicht, wie zwei Beispiele zeigen.

Volksmärchen ohne Urtext. Richtig ist zwar, dass während Jahrhunderten bei der Überlieferung der sogenannten «Volksmärchen», die übrigens keine «Autoren» kennen, das mündliche Erzählen dominiert. Ab dem 16. Jahrhundert setzt von Italien her aber eine verstärkte Verschriftlichung der Märchen ein. Um 1550 veröffentlicht der Italiener Giovan Francesco Straparola (ca. 1480-1557) seine Novellensammlung «Le piacevoli notti» oder zu Deutsch: «Die ergötzlichen Nächte». Er literarisiert die volkstümliche Erzählform des Mündlichen. Seine Sammlung enthält auch eine frühe Version des gestiefelten Katers: ein Hinweis darauf, dass Märchenmotive schon seit vielen Jahrhunderten über Kultur-, Sprach- und Nationengrenzen hinweg wandern. Ein Urtext existiert bei den «Volksmärchen», auch «Zauber-» oder «Wundermärchen» genannt, übrigens nicht. D.h. die Forschung hat inzwischen eingesehen, dass die Suche nach solchen Ursprungstexten erfolglos sein wird. Hexen, Drachen und Prinzen sind ja auch keine Figuren der Religion, wie etwa die christlichen Apostel. Märchenfiguren lassen sich damit nicht einem bestimmten historischen Ursprungstext zuordnen, sondern nur den tanzenden Synapsen unseres menschlichen Hirns, den archetypischen Ängsten und Hoffnungen unseres kollektiven Halb- oder Unbewussten.

Die Sünden der Brüder Grimm. Gerade die erotischen und abenteuerlichen Erzählungen der Sammlung aus tausendundeiner Nacht zeigen, dass Märchen keineswegs «Kinderkram» sind. Bis ins frühe 19. Jahrhundert richten sich Märchen vor allem an Erwachsene, so etwa die «Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités» bzw. «Geschichten oder Märchen aus vergangener Zeit einschliesslich der Moral» des Franzosen Charles Perrault (1628-1703). Sie ergötzen im 18. Jahrhundert die galante Gesellschaft des damaligen Frankreich. Der durchschlagende Erfolg und Einfluss der Brüder Grimm mit ihren «Kinder- und Hausmärchen» lässt dann allerdings Märchen im 19. Jahrhundert zum erzieherischen Stoff für Kinder werden. Schade eigentlich.

«Märchen, Magie und Trudi Gerster». Die Idee der Ausstellung im Landesmusem Zürich ist es, den Kern der kulturhistorisch unterschätzten Erzählform des Märchens freizulegen. Was konkret gezeigt wird? Verrate ich nicht. Dies jedoch als Anregung zum Besuch: Lauschen Sie an einer der Hörstationen einmal der Stimme von Trudi Gerster. Ohne das Vorurteil: «Ist ja nur eine Märchentante». Nehmen Sie den Inhalt ernst, destillieren sie ihn für ihr eigenes Leben und ich bin mir sicher: Sie nehmen einen Gedanken oder eine Idee mit nach Hause. Das reicht schon als Begründung, warum ich mir als Co-Kurator wünsche, Sie möchten im Museum vorbeischauen – und warum ich hier so schamlos für ein eigenes Projekt werbe.
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Die Ausstellung «Märchen, Magie und Trudi Gerster» ist vom 10. Januar bis zum 11. Mai im Landesmuseum Zürich zu sehen. ZP-Redaktor Walter Keller hat sie als Gastkurator mit Pascale Meyer, Kuratorin am Landesmuseum, gestaltet. Infos: www.maerchen.landesmuseum.ch
05. Januar 2014
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