Und wo ist die Schönheit geblieben?
Diktaturen scheitern an ihrer Hässlichkeit. Und daran, dass sie die Schönheit nicht zulassen, nicht zulassen können; denn Schönheit entsteht durch die natürliche Passung ihrer Elemente, sie ist nicht vereinbar mit Willensgewalt und Herrsch- und Ordnungssucht.
Schönheit fügt sich keiner Diktatur, weder einer privaten oder politischen noch einer ökonomischen. Wer ins Wesen des Schönen eingreift, wer Schönheit begradigen will, zerstört sie, denn im Schönen gehen Inhalt und Form nahtlos und wechselwirkend ineinander über.
Da aber Ungewachsenes nicht leben kann, müssen Diktaturen an ihrem grundlegenden Mangel, dem Mangel an Schönheit, scheitern. Herrscher sind Seelentechnokraten. Wüssten sie um die Komplexität organischer Schönheit und die Gefahr ihrer Zerstörung, es gäbe sie nicht.
Alles Natürliche entwickelt sich zum Schönen hin
Ist das nun eine gute Botschaft? Bedingt. Denn leider gibt es nicht nur Schönheit und Hässlichkeit, sondern alle Stufen dazwischen. In der Praxis sind das Schöne und das Hässliche Prozesse, Entwicklungswege. Alles Natürliche, so will es mir scheinen, entwickelt sich zum Schönen hin, der Keimling zur Pappel, der Embryo zum Kind, zum Mann, zur Frau; der spontane Gedanke zu einer Idee, einer Meditation, einem Gespräch; der Flirt zur Liebe.
Bleiben diese Wege lebendig, so vervollkommnet, verfeinert sich etwas und birgt doch auch einen ersten Keim des Todes – Yin und Yang – und damit den Keim der Erneuerung. Hässlichkeit hingegen ist der Endpunkt zivilisatorischer Prozesse. Sie bemächtigen sich des Natürlichen und zwingen es unter menschliche, also unvollkommene, künstliche Gesetze, bis das Natürliche zunehmend seine Lebendigkeit ausgemagert, all sein Potenzial ausgebeutet hat und zum Produkt erstarrt ist. Marktreife heisst das dann.
Hässlichkeit ist das Endergebnis einer gesellschaftlich anerkannten Vergewaltigung. Wolkenkratzer mögen beeindruckend sein, Meisterwerke der Architektur und Ingenieurskunst, Ausdruck von Willen und Macht, nur: Schön sind sie nicht. Jede zehnjährige Birke kann mühelos neben ihnen bestehen. Und jede Eintagsfliege ebenso – und allein davon schuf die Natur über 3 000 (uns bekannte) Arten.
Weiss die KI mehr als Vater und Mutter?
Mit anderen Worten: Wir befinden uns auf dem Weg zur Hässlichkeit, den uns die Werbeindustrie als «schön» verkauft im Versuch, unseren Sinn für Ästhetik zu korrumpieren und ihren Zielen unterzuordnen. Manchmal, in seltenen Bewusstseinsschüben, die oft im Angesicht von wahrer Schönheit auftauchen, wird uns dieses Problem bewusst – oder wir erahnen es wenigstens, etwa beim Blick aus dem Fenster der Boeing hinunter auf die Berge und Flussarme, über die wir eben hinwegfliegen.
Aber dann wenden wir uns wieder dem Film zu, der vor uns über den Bildschirm flimmert. Meist sind wir zu sehr fasziniert von den Blumen des Hässlichen, sind so unterwegs, dass wir unsere Entwicklungsrichtung hin zu Versteinerung und Erstarrung kaum bemerken. Die Internet-Technologie ist ein Musterbeispiel dafür. Was für Möglichkeiten uns das World Wide Web doch bietet: Die grössten Kunstwerke der Menschheit können wir – digital – schauen, die schönsten Kompositionen sind nur einen Klick weit entfernt, unsere Liebsten sind für uns jederzeit digital verfügbar. Wie wundervoll.
Und wie fern. Die Internet-Technologie hat sich zwischen uns und die Nähe, das Leben, das Wunder gedrängt. Die KI scheint mehr zu wissen als Vater und Mutter. Das Internet hat von unserem Alltag auf eine beispiellose (!) Art und Weise Besitz ergriffen, eine Schönheit fressende Blume, der wir widerstandslos auf den Leim gekrochen sind – und kriechen.
In welcher Richtung bin ich unterwegs?
Da beim Blick auf Einzelnes und bestimmte Situationen das Ganze nicht erkennbar wird – und schon gar nicht die Richtung des Ganzen in Bewegung –, lohnt es sich, im Privaten wie im Öffentlichen innezuhalten und seine Richtung zu bestimmen. Bin ich unterwegs zum Hässlichen, also zu Erstarrung (meine Prinzipien, meine Glaubenssätze, meine Wahrheiten, mein Durchsetzungswille, mein Besitz, meine Position, mein Ego) oder bin ich unterwegs zum Schönen, zu mehr Lebendigkeit (Empathie, Offenheit, Sympathie, Bereitschaft zu lauschen, Empfängnisbereitschaft)? Ähnelt mein Leben eher einem Kanal oder einem mäandernden Wiesenfluss? Für mich hat sich dieses Innehalten und Zurücktreten schon immer gelohnt, es gelingt mir aber, natürlich, viel zu selten.
Die Kunst der inneren Landschaftshege
Gärtner wissen, dass es sogenannte Boden-Anzeiger gibt. Das sind Pflanzen, die auf die Qualität des Bodens hinweisen, auf dem sie wachsen. Jede von uns bestellt einen inneren Garten mit verschiedener Bodenqualität vom Sumpfboden über die Magerwiese bis zur reichhaltigen Schwarzerde. Es gibt Gebiete in unserem Geist von der naturblinden Qualität einer Fichten-Monokultur, und andere, die einem Regenwald gleichen. Die Kunst der inneren Landschaftshege besteht darin, je nach Bodenqualität seine ganz eigene Schönheit wachsen zu lassen: Eine Sumpfdotterblume wird nicht auf einer Magerwiese gedeihen und die Heidenelke nicht im Sumpf. So schön der anspruchsvolle Rittersporn ist, so wenig lässt er sich mit der Sumpfdotterblume oder der Nelke vergleichen. Mit jedem achtsamen Blick auf das Schöne in uns lernen wir auch etwas über die Böden in uns; über ihre Qualitäten und auch ihre Veränderungen. Und natürlich greift jedes Wetter, das auf uns herunterprasselt, in unser Bodenleben ein. Als Gärtnerinnen sollten wir darauf angemessen reagieren und darauf achten, innerlich nicht zu erodieren.
Gwundrig sein und bleiben
Allein, ohne Zurücktreten funktioniert das nicht. Uns immer wieder neu auf den uns eingewobenen Sinn für Schönheit zu besinnen, auf unser dazugehöriges Gespür für Harmonie bzw. Disharmonie, uns unverblümt und täglich neu die Frage zu stellen: Trägt das, was ich vorhabe, das, was ich sagen oder tun will, zur Schönheit des Ganzen bei und damit zu meiner eigenen Tiefenbalance? Bringt mein Verhalten ein Stück mehr Lächeln in die Welt und in mich?
In der Reaktion auf solche Fragen erfahre ich am eigenen Leib, wie sehr ich mit meinen Liebsten, mit meinen Kindern, meiner Familie, meinen Weggefährtinnen, ja der ganzen Welt tatsächlich verbunden bin. Dabei fällt mir wieder die Mahnung meines Schweizer Freundes Peter ein: gwundrig zu bleiben. Im Gwundrig-Sein, also in der Bereitschaft, die staunenswerte Schönheit der Welt an mich heran- und in mich einzulassen, liegt eine, ja vielleicht sogar DIE entscheidende Chance von uns Menschen, dem inneren Diktator und damit der Tendenz zum Hässlichen erfolgreich zu begegnen.
von:
Über
Bobby Langer
*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».
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