Unsere nächste Pflicht
Nach einem Jahr der gescheiterten Krisengipfel und zerfetzten Rettungsschirmen ist klar: Unsere Institutionen, von den Parlamenten über die Regierungen bis zur Wissenschaft und den internationalen Organisationen sind nicht in der Lage, die Schuldenkrise zu meistern. Jetzt stehen wir in der Verantwortung.
In unserem Geldsystem können nur einzelne Akteure ihre Schulden begleichen. Im Gesamtsystem wachsen die Schulden dagegen unaufhörlich. Der Grund ist gleichzeitig einfach und doch nicht leicht zu verstehen: Weil alles Geld als Kredit im Bankensystem entsteht, können alte Verpflichtungen nur mit neuen Schulden bezahlt werden. Und weil Schulden dank Zins und Zinseszins ständig wachsen, müssen immer neue und grössere Kredite gesprochen werden – ein veritabler Teufelskreis.
Zur Zeit stehen zwei verschiedene «Lösungen» zur Diskussion:
• Sparen. Das versuchen die Europäer, das tut weh, und es löst das Schuldenproblem nicht. Die Last ist zu gross, und sie wächst exponentiell. Dieser Weg wird von den tendenziell reicheren Ländern favorisiert, da sie noch über ein gewisses, aber schnell schwindendes Sparpotenzial verfügen.
• Geld drucken. Das praktizieren vor allem die Amerikaner und Engländer. Es verschiebt die Lösung in die Zukunft, produziert Inflation und damit eine schleichende Enteignung und wird deshalb von den reicheren Ländern abgelehnt und von den hochverschuldeten bevorzugt.
Beide Wege haben ihre Verlierer: Beim Sparen bezahlen in einer ersten Phase all diejenigen, die von staatlichen Leistungen abhängig sind. Sobald sich als Folge in einer zweiten Phase die Wirtschaft abkühlt, gehört auch die Mittelschicht zu den Verlierern.
Bei der Expansion der Geldmengen erhalten die Eigentümer von Geldvermögen immer weniger Realwert für ihr Guthaben. Dies sind vor allem die Besitzer von Spar- und Altersguthaben.
Beide Wege haben aber ein- und denselben Gewinner: die Finanzwirtschaft und die hinter ihr stehenden Besitzer grosser Vermögen. Bei der Geldvermehrung gehört sie zu den Erstbezügern, die sich mit dem neuen Geld zu alten Preisen eindecken können, beim Sparen behalten ihre Papiere den Wert.
Meine Prognose: Inflation. Erstens haben die Amerikaner, immer noch die stärkste Kraft in der Finanzwelt, reichlich Erfahrung, wie man Geld vermehrt und die inflationäre Last auf andere verteilt. Jüngstes Beispiel ist die konzertierte Aktion der sechs wichtigsten Zentralbanken, Dollars (natürlich auf Pump) zum Kauf notleidender europäischer Staatspapiere zur Verfügung zu stellen. Dollars in europäischen Bankenkellern sind erst eine inflationäre Gefahr für die USA, wenn sie auch dort ausgegeben werden. Zweitens birgt der Weg des Sparens enorme soziale Risiken. Wenn scheinbar stabile arabische Regimes innert Wochen dem Druck der Strasse weichen müssen, dann ist dies bei einer Verschärfung der Krise auch in den Industrieländern möglich.
Die einzig mögliche Lösung der Krise besteht natürlich darin, die Schulden zu streichen und ein neues, nachhaltiges und gerechtes Geldsystem aufzusetzen. Die Hauptleidtragenden eines solchen Schnitts wären die zwei Prozent Superreichen mit der Hälfte des Weltvermögens. (Sie müssten alles bis auf schätzungsweise rund zehn Millionen hergeben und den Rest des Lebens mit einer Yacht auskommen.) Diese Lösung muss leider noch ausgeschlossen werden, obwohl 98 Prozent der Menschen davon profitieren würden und sie hervorragend demokratisch legitimiert wäre. Diese Machtfrage wagt im Moment noch niemand ernsthaft zu stellen.
In beiden Varianten des Krisenverlaufs müssen wir uns früher oder später die Frage stellen: Wo liegt meine Verantwortung? Wir haben Ja gesagt zu einem Geld- und Wirtschaftssystem, das uns zwar beispielloses Wachstum, aber auch eine historisch einmalige Ungleichverteilung und schier unüberwindliche Probleme beschert hat. Wenn von den Regierungen keine Lösung zu erwarten ist, woher soll sie denn kommen?
Wir haben, um es philosophisch auszudrücken, den Reichtum der Erde verschwendet, weil wir ihn für uns behalten wollten, jeder für sich, anstatt ihn zu teilen. Wir haben die Erde zerstört, weil uns die riesige Fülle nicht genug war. Und wir haben uns betrogen, indem wir vor all dem die Augen verschlossen haben, vermutlich aus Bequemlichkeit, aus Angst und aus Eigennutz. Auf dieses kapitale Versagen steht die Höchststrafe: die Konsequenzen tragen.
Das tönt auf den ersten Blick bedrohlich, vor allem, wenn man sich die schauerlichen Szenarien eines unvorbereiteten Crashs vor Augen hält und wenn man zu viel auf die Massenmedien schaut. Die Kameras sind immer dort, wo die Gewalt die schockierendsten Bilder liefert, während die Mitmenschlichkeit aussen vor bleibt. Ein Beispiel: Als der Wirbelsturm Katrina New Orleans von der Aussenwelt abschnitt, wurden die Plünderungen im Stadtzentrum gefilmt, während in den Aussenquartieren eine quasi unsichtbare, selbstlose Nachbarschaftshilfe einsetzte.
Einer, der seit Jahren den Blick auf die Kräfte der Liebe und des Herzens richtet, ist der mehrfach ausgezeichnete kanadische Dokumentarfilmer Velcrow Ripper. In seinem Film «Sacred Scared» besuchte er die Ground Zeros dieser Welt, in New York, Afghanistan, Hiroshima, Israel oder Palästina und traf ausserordentliche Menschen mit einer grossen Gemeinsamkeit: einer Quelle von Lebenssinn und der Bereitschaft zu handeln. Dies führte ihn zu seinem nächsten Film «Fierce Light» (leidenschaftliches Licht) über die ausserordentlichen Kräfte, die aus der Verbindung von Spiritualität und Aktivismus entstehen. In seinem neusten Film «Occupy Love», an dem er zur Zeit noch arbeitet, stellt er die Frage: Wie kann sich die wirtschaftliche und ökologische Krise zu einer grossen Liebesgeschichte entwickeln, die die Menschen einander näher bringt? Velcrow Rippers Antwort auf Repression, Gewalt und Konzernherrschaft ist der grösstmögliche Kontrast: Freiheit, Gewaltlosigkeit und Kreativität. «Dies ist der Weg, Gewalt zu transformieren und nicht ihre Sprache auf die Verursacher zurückzuschleudern.»
Natürlich ist es in Ordnung, wenn wir uns im Hinblick auf eine Verschärfung der Krise möglichst unabhängig machen, aber nicht, um der Not zu entgehen, sondern besser helfen zu können. Denn die Antwort auf die Gewalt unseres Wirtschaftssystems kann es nicht sein, den Spiess umzudrehen, sondern das Herz zu öffnen. Dann macht die Krise sogar Sinn.
Mehr zum Thema «Wer A sagt, muss B tun» im neusten Zeitpunkt: http://www.zeitpunkt.ch/archiv/2012/117-wer-a-sagt-muss-b-tun.html
In unserem Geldsystem können nur einzelne Akteure ihre Schulden begleichen. Im Gesamtsystem wachsen die Schulden dagegen unaufhörlich. Der Grund ist gleichzeitig einfach und doch nicht leicht zu verstehen: Weil alles Geld als Kredit im Bankensystem entsteht, können alte Verpflichtungen nur mit neuen Schulden bezahlt werden. Und weil Schulden dank Zins und Zinseszins ständig wachsen, müssen immer neue und grössere Kredite gesprochen werden – ein veritabler Teufelskreis.
Zur Zeit stehen zwei verschiedene «Lösungen» zur Diskussion:
• Sparen. Das versuchen die Europäer, das tut weh, und es löst das Schuldenproblem nicht. Die Last ist zu gross, und sie wächst exponentiell. Dieser Weg wird von den tendenziell reicheren Ländern favorisiert, da sie noch über ein gewisses, aber schnell schwindendes Sparpotenzial verfügen.
• Geld drucken. Das praktizieren vor allem die Amerikaner und Engländer. Es verschiebt die Lösung in die Zukunft, produziert Inflation und damit eine schleichende Enteignung und wird deshalb von den reicheren Ländern abgelehnt und von den hochverschuldeten bevorzugt.
Beide Wege haben ihre Verlierer: Beim Sparen bezahlen in einer ersten Phase all diejenigen, die von staatlichen Leistungen abhängig sind. Sobald sich als Folge in einer zweiten Phase die Wirtschaft abkühlt, gehört auch die Mittelschicht zu den Verlierern.
Bei der Expansion der Geldmengen erhalten die Eigentümer von Geldvermögen immer weniger Realwert für ihr Guthaben. Dies sind vor allem die Besitzer von Spar- und Altersguthaben.
Beide Wege haben aber ein- und denselben Gewinner: die Finanzwirtschaft und die hinter ihr stehenden Besitzer grosser Vermögen. Bei der Geldvermehrung gehört sie zu den Erstbezügern, die sich mit dem neuen Geld zu alten Preisen eindecken können, beim Sparen behalten ihre Papiere den Wert.
Meine Prognose: Inflation. Erstens haben die Amerikaner, immer noch die stärkste Kraft in der Finanzwelt, reichlich Erfahrung, wie man Geld vermehrt und die inflationäre Last auf andere verteilt. Jüngstes Beispiel ist die konzertierte Aktion der sechs wichtigsten Zentralbanken, Dollars (natürlich auf Pump) zum Kauf notleidender europäischer Staatspapiere zur Verfügung zu stellen. Dollars in europäischen Bankenkellern sind erst eine inflationäre Gefahr für die USA, wenn sie auch dort ausgegeben werden. Zweitens birgt der Weg des Sparens enorme soziale Risiken. Wenn scheinbar stabile arabische Regimes innert Wochen dem Druck der Strasse weichen müssen, dann ist dies bei einer Verschärfung der Krise auch in den Industrieländern möglich.
Die einzig mögliche Lösung der Krise besteht natürlich darin, die Schulden zu streichen und ein neues, nachhaltiges und gerechtes Geldsystem aufzusetzen. Die Hauptleidtragenden eines solchen Schnitts wären die zwei Prozent Superreichen mit der Hälfte des Weltvermögens. (Sie müssten alles bis auf schätzungsweise rund zehn Millionen hergeben und den Rest des Lebens mit einer Yacht auskommen.) Diese Lösung muss leider noch ausgeschlossen werden, obwohl 98 Prozent der Menschen davon profitieren würden und sie hervorragend demokratisch legitimiert wäre. Diese Machtfrage wagt im Moment noch niemand ernsthaft zu stellen.
In beiden Varianten des Krisenverlaufs müssen wir uns früher oder später die Frage stellen: Wo liegt meine Verantwortung? Wir haben Ja gesagt zu einem Geld- und Wirtschaftssystem, das uns zwar beispielloses Wachstum, aber auch eine historisch einmalige Ungleichverteilung und schier unüberwindliche Probleme beschert hat. Wenn von den Regierungen keine Lösung zu erwarten ist, woher soll sie denn kommen?
Wir haben, um es philosophisch auszudrücken, den Reichtum der Erde verschwendet, weil wir ihn für uns behalten wollten, jeder für sich, anstatt ihn zu teilen. Wir haben die Erde zerstört, weil uns die riesige Fülle nicht genug war. Und wir haben uns betrogen, indem wir vor all dem die Augen verschlossen haben, vermutlich aus Bequemlichkeit, aus Angst und aus Eigennutz. Auf dieses kapitale Versagen steht die Höchststrafe: die Konsequenzen tragen.
Das tönt auf den ersten Blick bedrohlich, vor allem, wenn man sich die schauerlichen Szenarien eines unvorbereiteten Crashs vor Augen hält und wenn man zu viel auf die Massenmedien schaut. Die Kameras sind immer dort, wo die Gewalt die schockierendsten Bilder liefert, während die Mitmenschlichkeit aussen vor bleibt. Ein Beispiel: Als der Wirbelsturm Katrina New Orleans von der Aussenwelt abschnitt, wurden die Plünderungen im Stadtzentrum gefilmt, während in den Aussenquartieren eine quasi unsichtbare, selbstlose Nachbarschaftshilfe einsetzte.
Einer, der seit Jahren den Blick auf die Kräfte der Liebe und des Herzens richtet, ist der mehrfach ausgezeichnete kanadische Dokumentarfilmer Velcrow Ripper. In seinem Film «Sacred Scared» besuchte er die Ground Zeros dieser Welt, in New York, Afghanistan, Hiroshima, Israel oder Palästina und traf ausserordentliche Menschen mit einer grossen Gemeinsamkeit: einer Quelle von Lebenssinn und der Bereitschaft zu handeln. Dies führte ihn zu seinem nächsten Film «Fierce Light» (leidenschaftliches Licht) über die ausserordentlichen Kräfte, die aus der Verbindung von Spiritualität und Aktivismus entstehen. In seinem neusten Film «Occupy Love», an dem er zur Zeit noch arbeitet, stellt er die Frage: Wie kann sich die wirtschaftliche und ökologische Krise zu einer grossen Liebesgeschichte entwickeln, die die Menschen einander näher bringt? Velcrow Rippers Antwort auf Repression, Gewalt und Konzernherrschaft ist der grösstmögliche Kontrast: Freiheit, Gewaltlosigkeit und Kreativität. «Dies ist der Weg, Gewalt zu transformieren und nicht ihre Sprache auf die Verursacher zurückzuschleudern.»
Natürlich ist es in Ordnung, wenn wir uns im Hinblick auf eine Verschärfung der Krise möglichst unabhängig machen, aber nicht, um der Not zu entgehen, sondern besser helfen zu können. Denn die Antwort auf die Gewalt unseres Wirtschaftssystems kann es nicht sein, den Spiess umzudrehen, sondern das Herz zu öffnen. Dann macht die Krise sogar Sinn.
Mehr zum Thema «Wer A sagt, muss B tun» im neusten Zeitpunkt: http://www.zeitpunkt.ch/archiv/2012/117-wer-a-sagt-muss-b-tun.html
01. Januar 2012
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Christoph Pfluger
Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".
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