In Versuchung – der falsche Weg?

Versuchungen aller Art gibt es bekanntlich im praktischen Leben, in der Seele und überall in Stadt und Land. Die Versuchung ist bedeutend mehr als nur ein Versuch, sie durchzieht das Leben in der Tiefe und weckt neue Gedanken, nicht nur gute, auch gefährliche.

(Illustration: ron&joe)

Darum klingt die spirituelle Ansprache «und führe uns nicht in Versuchung» im Vaterunser nach einem grundlegenden Bedürfnis im Bereich der Orientierung unserer Lebensplanung. Aber die Anrede der göttlichen Autorität, uns ja nicht auf den falschen Weg zu schicken, enthält die Annahme, dass die Versuchung gar nicht unbedingt unserer eigenen Leichtfertigkeit entspringen muss, sondern von höchster Seite in uns zu dringen vermag. Erstaunlich, dass im zentralen christlichen Gebet eine solche Unterstellung enthalten sein soll. Papst Franziskus hat in diesem Sinn eine wichtige Anregung gegeben. Die Vaterunser-Bitte «und führe uns nicht in Versuchung» sei in dieser Formulierung keine gute Übersetzung. Es sei nicht Gott, der den Menschen in Versuchung stürze, um dann zuzusehen, wie er falle. Diese Textkritik passt gut zur protestantischen Freiheit, die Bibel in aktueller Sprache neu zu gestalten. Wie wäre es daher mit der Formulierung »und führe uns in der Versuchung»? Nicht die Versuchung ist der problematische Schritt und schon gar nicht die göttliche Kraft steht dahinter, sondern der Umgang mit den neuen Gedanken, die in der Versuchung stecken, ist entscheidend, der Weg, der uns in kreativer Richtung weiterführt, von Gott geleitet und begleitet.

Der Weg ist wichtig und die innere oder äus­sere Führung auf diesem Weg wird entscheidend sein. Sie muss nicht autoritär wirken, so wie die Begleitung unserer nächsten Schritte nicht herrschaftlich sein muss. Darum verbindet sich die veränderte Übersetzung des Unser-Vaters mit einer weiteren Kontrolle der biblischen Textvorgaben. Muss Gott die königliche Herrscherrolle erfüllen? Ist Jesus nicht Bruder, ist Gott nach den Vorschlägen der geschlechterneutralen Bibelübersetzung nicht Vater und Mutter zugleich? Die liturgische Prägung der Gottesdienste und Gebete im Sinn von «der Herr sei mit euch» wäre ebenfalls im Sinn des Heiligen Geistes zu korrigieren. Die göttliche Kraft soll mit uns sein – in Stadt und Land und auf allen unseren Wegen. Sie soll uns anregen, Versuche zu wagen und dabei falsche Wege zu vermeiden. Die Spiritualität des befreienden Gebets wird uns dabei begleiten.

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Dieter Olaf Schmalstieg ist Theologe, Autor und Journalist und war zuletzt Chefredaktor des Sämann, der Zeitung der evang.-ref. Kirche des Kantons Bern, heute reformiert.