Vom Muskelshirt zum Fairtradeshirt

Joe Bozich, ein ehemaliger amerikanischer Bodybuilder, hat ein einzigartiges Fairtrade-Geschäftsmodell geschaffen. Seine Firma «Alta Gracia» bezahlt nicht einfach Mindest-, sondern Existenzlöhne, die ein würdiges Leben der Angestellten und ihrer Familien garantieren.

Als junger Mann musste er sich seine Kleider massschneidern lassen. Sein Bizeps hatte einen Umfang von 50,8 cm, die Oberschenkel 72,2 cm – mehr als die Taille seiner Gefährtinnen. Joe Bozich war Bodybuilder. Er hatte ein Mathematikstudium absolviert, stemmte dann aber lieber physische Schwergewichte. 1985 gewann er als 23-Jähriger die nationale Bodybuilding-Meisterschaft und wurde Mister USA. Inzwischen hat Joe Bozich über 30 Kilogramm Gewicht verloren. Trotzdem trägt er auch heute keine Kleider von der Stange. Seine Anzüge zeigen, dass er längst zu gut dafür verdient.


Rund 3000 Kilometer entfernt von Bozichs Wohnort Chicago, in Villa Altagracia im Süden der Dominikanischen Republik, fragen sich die Menschen am Morgen nicht, was sie anziehen sollen. Vielmehr überlegen sie sich, ob es am Mittag Reis mit roter Bohnensauce gibt oder ob sie sich heute vielleicht ein Stück Huhn leisten können. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Schulbildung tief.


Sueldo digno – würdiger Lohn. «Alta Gracia» – hohe Gnade. So heisst Joe Bozichs Fairtrade-Kleidermarke, die er 2009 in Chicago gegründet hat und die in einer Fabrik in Villa Altagracia produziert wird. Sie ist weltweit die einzige Bekleidungsmarke, die den NäherInnen einen Existenzlohn bezahlt, einen «sueldo digno» – würdigen Lohn. Dieser Lohn liegt fast das Dreieinhalbfache über dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn.


Er ist so bemessen, dass jede und jeder der 150 Angestellten mit ihren Familien menschenwürdig leben können. Das heisst, dass sie Zugang zu Wasser und Strom, täglich drei Mahlzeiten und die Möglichkeit für Schule und Studium haben. «Alta Gracia» sorgt zudem für medizinische Grundversorgung und Kinderbetreuung.


Joe Bozich will seinen Angestellten gute Arbeits- und Lebensbedingungen ermöglichen – aber auch selber gut verdienen dabei. Der höhere Lohn hat nur einen kleinen Einfluss auf die Produktionskosten: Bei einem konventionell hergestellten T-Shirt betragen diese etwa 4 Dollar, bei «Alta Gracia» sind es 80 Cents mehr. Dass jedes Kleidungsstück eine Etikette mit dem Foto einer/eines Fabrikangestellten trägt, weckt bei Kunden zusätzliche Sympathie und kurbelt die Geschäfte an. «Alta Gracia» war schon nach drei Jahren gewinnbringend.


Jost Brunner, Sohn der Schweizer Fairtrade-Pionierin Ursula Brunner («Bananenfrauen»), lebte einige Jahre in der Region von Villa Altagracia. Wie seine Mutter engagiert auch er sich für fairen Handel. Nicht immer komme ein Mehrertrag den einzelnen Arbeiterinnen und Arbeitern zugute, sagt er. «Viele Fairtrade-Kooperativen verwenden das zusätzliche Geld für die Gemeinschaft, indem sie Schulen und medizinische Zentren bauen. Damit aber übernehmen sie Verantwortung für etwas, was der Staat leisten müsste – das Lohnniveau der Angestellten der Kooperativen bleibt weiterhin tief.»


Im Frühjahr 2014 besuchte Jost Brunner die Fabrik in Villa Altagracia. Sein Urteil: «Die Fabrik wirkt hell und sauber. Die Arbeitsbedingungen sind offensichtlich besser als an anderen Orten.» Besonders beeindruckt ist der Fairtrade-Fachmann von der Transparenz bei «Alta Gracia». Alle Produktionsanlagen, auch die Löhne und Inspektionsberichte, werden auf der Website der Gewerkschaft veröffentlicht. «Das kannte ich bisher von keinem Fairtrade-zertifizierten Betrieb», sagt er. Eindrücklich ist auch, wie viele Menschen jeweils vor der Fabrik anstehen. Unter anderem muskulöse Dominikaner, die ihren Tag gerne mit Gewichtstemmen und Körperkult verbringen.


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Weitere Informationen: www.altagraciaapparel.com

Die Journalistin Cornelia Diethelm sammelt für den gemeinnützigen Verein Musik übers Meer in der Schweiz Instrumente für Musikschulen und Jugendorchester in der Dominikanischen Republik: www.musikuebersmeer.ch