Von Prinzen aus der Schule gemobbt
Wenn Eltern Stehlen und Schwänzen mit einem Schulterzucken quittieren, hat Unterricht einen schweren Stand. Ein Erlebnisbericht.
Symbolbild. Foto: Ben Nguyen
Symbolbild. Foto: Ben Nguyen

Sie hatten mich gewarnt. Die Lehrerinnen, die das Handtuch schmissen. Vor den fünf «bösen» Jungs, die logen und stahlen und sich in den grossen Pausen versteckten. 

Mich beeindruckte das nicht. Ich hatte noch jede Klasse auf Linie gebracht. Mit Empathie und Autorität. Nahe bei den Kindern, feinfühlig, fast hellseherisch ihre Nöte und Talente ahnend. Und einem klaren Führungsanspruch.
Als also die 6. Klasse plötzlich ohne Klassenlehrerinnen dastand, übernahm ich. Es wurde auch für mich das letzte Jahr als Lehrerin. Mit der 6f würde auch ich erfahren, wie Schule geht, wenn aus Berufung Dienst nach Vorschrift wird. 

Da gab es, wie ich rasch feststellen musste, tatsächlich so etwas wie einen Clan von fünf Jungs, die handelten wie «ein Mann». Zog ich einen von ihnen zur Rechenschaft, schrieen gleich vier auf mich ein. Zur Begrüssung bewarf mich einer von ihnen mit Holzwürfeln, zwei andere schoben einen Pallettenrolli vor die WC-Türe. Die anderen Jungs und die Mädchen wirkten eingeschüchtert. Dem Clan begegneten sie mit einer Mischung aus Bewunderung, Ablehnung und Angst.

Der Klassenrat und die Theaterstunden, meine beiden Königsdisziplinen, griffen diesmal nicht. Anstatt im Sitzkreis unter meiner Anleitung Konflikte untereinander zu lösen, nahmen mich die Kinder als willkommene Zielscheibe. Sie überhäuften mich mit Vorwürfen über angeblich zu schwierige Prüfungen. Oder sie bombardierten mich mit Wünschen nach Lager, Ausflügen zu Achterbahnen und Möglichkeiten zum Geldverdienen, um sich dies alles leisten zu können. Sie verglichen ihre Klasse mit Parallelklassen, in denen solche Anlässe offenbar normal waren.
Meine früheren Klassen hatten es geliebt, mit mir in Museen und zu Exkursionen zu gehen. Im Historischen Museum hatten wir einen Stummfilm gedreht, in der Steingrube eine Lawine ausgelöst und eine Rieseneidechse gebaut. Wir waren an Theaterwettbewerben aufgetreten. Und einmal war ein Radio-Übertragungswagen nur für meine Klasse gekommen.

Für die 6f aber hätte ich keine schulischen Zusatzangebote, sondern Freizeit organisieren sollen. Während der Theaterlektionen schrie, tobte, lachte die Fünferbande oder versteckte sich hinter der Bühne. Auf diese Weise verunmöglichte sie die delikate Arbeit, in der Kinder und Jugendliche normalerweise durch Achtsamkeitsübungen und freies und geleitetes Improvisieren in den Flow des selbständigen Inszenierens kommen. Die Theaterarbeit hat neben dem künstlerischen auch einen grossen Effekt aufs Klassenklima. Die Kinder vergessen unbemerkt ihre Streitigkeiten, da sie im Spiel aufeinander angewiesen sind. 

Auch bei der 6f gab es Glanzmomente, in denen Kinder, die sich sonst aus dem Weg gingen, gemeinsam Szenen entwickelten und vorzeigten. Aber die gemeinsame Entwicklung als Klasse blieb aus, weil sich der Clan immer wieder in den Vordergrund spielte, störte und mobbte. Massnahmen wie ein mehrwöchiger Ausschluss aus der Theaterstunde mussten mit der Schulleitung und den Eltern abgesprochen werden und blieben, da nur sporadisch, unwirksam.

Das entsprach nicht meinen Vorstellungen von Schule. Die Klasse spürte das und verweigerte mir die emotionale Gefolgschaft. Das harzige Klassenklima und das Verhalten des Clans auch ausserhalb der Klasse liessen mich das Unterrichten immer mehr als reine Pflichtübung ableisten. Ich und die Klasse – das wurde zu einer rein geschäftlichen Beziehung, in der ich die Kinder auf Prüfungen vorbereitete.

Im Nachhinein frage ich mich natürlich, was ich hätte besser machen können. Zwanghafte Selbstreflexion bis hin zu Selbstvorwürfen zählen leider zu den gängigen Belastungsfaktoren im Unterricht. Die Supervision durch eine kantonale Fachstelle hatte das für mich schmeichelhafte Ergebnis erbracht, dass ich einen angenehmen Unterricht gestaltete und die Kinder gut auf meine Interventionen reagierten. Auch der Unterrichtsbesuch eines Mitglieds der Schulleitung attestierte mir hervorragende Stoffvermittlung und eine gute Führung der Klasse.  Doch ich hätte mir mehr gewünscht, vor allem die Auflösung des Clans sowie ein angstfreies, respektvolles Miteinander aller.

Während sich in meinen früheren Klassen die Intelligenteren und sozial Stärkeren durchsetzten und mich in der Klassenführung unterstützten, gingen solche Kinder in der 6f verloren. Einige der Intelligenteren verbarrikadierten sich, um nicht zur Zielscheibe von Mobbing zu werden. Andere, von Natur aus führungsstarke, machten entweder hie und da gemeinsame Sache mit dem Clan oder wurden von diesem angeschossen. Ich unternahm immer wieder Anstrengungen, die Mädchen zum Sprechen zu bringen. Es gelang manchmal, einmal stellten sie den Clan einzeln zur Rede. Aber die Effekte verblassten rasch.

Mir kam es vor, als würde in der Klasse die Ordnung der traditionellen Familienverhältnisse der meisten der Kinder wieder inszeniert: Die Mädchen werden zu Anstand und Hausarbeit erzogen, die Jungs von ihren Schwestern und Müttern bedient. Vielleicht lag da der tiefere Grund, warum die Mädchen nicht aufbegehrten. Ich aber hinterfragte in jeder Stunde die Führerschaft des Clans und wurde dafür von der ganzen Klasse mit emotionaler Distanz bestraft. 

Das eine oder andere Bandenmitglied auszuschliessen, indem ich es mit grossem Aufwand stundenweise einer anderen Klasse übergab, erwies sich als zu wenig wirksam. Man hätte den Clan dauerhaft auseinandernehmen müssen, aber auf diese eigentlich naheliegende Idee kam ich nicht – und auch die Schulleitung oder die Schulsozialarbeit nicht.

Was funktionierte, war ein geschäftsmässiger Unterricht: Frontalunterricht, manchmal Gruppenunterricht, Lernen zu zweit – was gute Didaktik eben so hergibt. Die meisten in der Klasse wollten gute Noten erreichen, das war immerhin ein Konsens. 

Aber ich bekam ständig Hiobsbotschaften von anderen Lehrern und Lehrerinnen, die die fünf Burschen bei Überschreitungen beobachtet hatten: Verlassen des Pausenplatzes, Schwänzen, Klauen, Schlagen von anderen Kindern, unerlaubter Aufenthalt in Schulhäusern, Verbreitung von Pornos auf Schulgeräten, Cybermobbing. Das hiess für mich ab Tag eins: Elternarbeit.

Der soziale Mix des Clans wirkte offenbar zugleich wie Araldit-Klebstoff und Dynamit. Zwei der betroffenen Jungs stammten aus wohlhabenden Schweizer Verhältnissen. Das Milieu von zwei anderen jungen Burschen würde man als sozial schwach bezeichnen. Die Familie des fünften Jungen war zugewandert. Der Vater zeigte die nötige Distanz zum Sohn, die diesen gedeihen lässt, die Mutter wohl etwas zu lieb. Beide schienen aber den Sog zu übersehen, den die anderen vier auf ihren Sohn ausübten. Ihr Bub war der Diener der Clanchefs.

So unterschiedlich die Milieus, denen sie entstammten, gemeinsam war ihnen eine Erziehung, die wenig Grenzen setzt. Verwöhnung und Vernachlässigung arbeiteten da Hand in Hand. Während die einen Eltern, überfordert durch das schiere Überleben, es nicht besser konnten, eiferten die anderen wohl der modernen «bedürfnisgerechten Erziehung» nach, bei der kurz gesagt der Prinz den Königsstuhl innehat. 

Bei mir hätten die Knaben nun umlernen sollen. Ich stand für Disziplin, Anstand und Selbstverantwortung.

Doch die Burschen hatten hartnäckige Verteidiger: Da war der knapp des Deutschen mächtige Vater, der mich bedrohte, weil ich seinem Sohn das ständige Aufstehen während der Stunde verboten hatte. Da war die im Sozialbereich arbeitende Mutter, die das Schwänzen ihres Sohnes mit der beginnenden Pubertät begründete. Und dann die Eltern, die die Unterrichtsstörungen ihres Sohnes der Langeweile, bedingt durch seine hohe Intelligenz, zuschrieben – überall begegnete mir triefende Rechtfertigung der Grenzüberschreitungen der Söhne. Der eine spickte? Der zweite diskutierte lauthals Lösungen während der Prüfungen? Der dritte machte seine Hausaufgaben nie? – Alles meine Schuld! Ich war eben zu streng, zu wenig streng, zu unsportlich, zu alt, zu wenig kinderlieb, zu intolerant, bot ihren Kindern zu wenig ausserschulische Events, kurz: Ich war eine schlechte Lehrerin.

Aber auch die Hilfestellungen von Schulleitung und Schulsozialarbeit hatten ihre Pferdefüsse. So mussten die fünf Jungs einmal pro Woche eine Viertelstunde gemeinsam mit der Schulleiterin ihr Verhalten reflektieren. Und tatsächlich gingen die Grenzüberschreitungen eine Zeit lang zurück. Doch bei den Besprechungen mit der Schulvorsteherin deponierten die Jungs Wünsche, die diese mir dann präsentierte. Beispiel: Die Unruhestifter würden so gerne nebeneinandersitzen. Auch hier erfuhr der Clan also keine einschneidenden Konsequenzen. Für ihre Taten mussten sie lediglich immer wieder Entschuldigungsbriefchen schreiben.

Die Schulsozialarbeiterin ortete das Problem des Clans bei der «negativen Gruppenidentität». Sie buk deshalb mit den Burschen während der Unterrichtszeit Guetsli für die Klasse und deren Lehrerinnen. Das machte die fünf mächtig stolz, doch unter dem Strich war die Aktion eine Belohnung für massives Fehlverhalten. Den anderen 15 Kindern der Klasse jedenfalls wurden keine Backstunden verordnet. Dass die fünf Jungs die Klasse im Griff hatten, könnte mein tapfer zu ertragendes Einzelschicksal gewesen sein. Doch leider hat die Sache System: Zuhause fehlen Grenzen. Und auch die Schulen setzen keine Grenzen, beispielsweise mit einem verbindlichen Massnahmenkatalog. So werden wir Lehrpersonen zu Wachs in den Händen solcher im Grunde nach Regeln lechzenden Jungs.  

Während vor einigen Jahrzehnten Strafen und Beschämen die Schwarze Pädagogik prägten, hat das Pendel mittlerweile auf die andere Seite ausgeschlagen. Mit Verständnis und Entgegenkommen allein ist Erziehung aber nicht möglich. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass ein entschiedenes Nein oder Massnahmen wie Putzdienst oder Ausschluss aus Klassenevents der Kinderseele schaden. Das Gegenteil ist der Fall. Ohne klare Richtlinien irrlichtern Kinder in ihren eigenen Universen, durch Steigerung der Grenzüberschreitungen suchen sie verzweifelt nach Grenzen. Die Grenze ist das Du, die Integrität des anderen, die es zu achten gilt. Der natürliche Egozentrismus des Kindes muss von verantwortungsvollen Erwachsenen auf eine Bewahrung der Integrität des anderen hingelenkt werden. Und das geschieht nicht, indem man das Ich des Kindes auf einen Thron hebt.

Ihr Verharren in der Grenzüberschreitung hatte auch auf das Lernverhalten der fünf Auswirkungen. Der eine verweigerte immer wieder, Aufträge auszuführen. Der zweite schaffte es trotz normaler Intelligenz nicht, während des Unterrichts an irgendeiner Aufgabe mitzuarbeiten, geschweige denn zuhause. Der dritte, auch er normal intelligent, hat keinen genügenden Antrieb. Der vierte, enorm von zu Hause gefördert, blieb unter seinen Möglichkeiten. Nur der fünfte konnte in den letzten Monaten des Schuljahres seine Leistungen deutlich steigern. Er war es auch, der weinte, als ich ihn einmal wegen eines Missverhaltens zur Rede stellte. 
 

Samia Guemei (2718)

Samia Guemei
Samia Guemei (2718)

Samia Guemei, geboren in Ägypten, aufgewachsen und wohnhaft in der Schweiz, Journalistin und Primarlehrerin.

«Ich arbeite am Wort und mit Menschen. Ich glaube an die Aufklärung und die Kreativität.»

 

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