Was um Himmels willen ist ein «Avatar»?

Die blauen Aliens aus James Camerons Sci-Fi-Spektakel sind in diesen Tagen in den Medien allgegenwärtig. Da ist viel von Kino-Tricktechnik und sogar von einem Ökothriller die Rede, nur mit dem Titel gebenden Begriff «Avatar» wird sehr sorglos umgegangen. (Roland Rottenfußer)

Ich weiss, was ein Avatar ist, weil ich mit einem gesprochen habe – besser gesagt mit einer Avatarin. Nein, nicht mit einer der drei Meter hohen Na’vi-Damen aus dem Film. Ich hatte einmal eine Avatarin am Telefon. Sie nannte sich Avatara Devi, war von Beruf spirituelle Meisterin mit einer Vorliebe für prunkvolle Selbstinszenierungen und nach eigenen Aussagen eine «Teilinkarnation der göttlichen Mutter». Gemeint ist: Das transzendente Wesen, das wir Göttliche Mutter nennen, ist eine solch umfassende Seele, dass sie sich, um auf der Erde zu wandeln, in mehrere Teilpersönlichkeiten aufspalten muss, in mehrere menschliche Verkörperungen. Eine davon ist angeblich besagte Avatara Devi.



Klingt verrückt. Ich hatte auch so meine Zweifel und habe diese der Dame am Telefon höflich mitgeteilt. Ein Avatar oder eine Avatarin, so wusste ich aus der Religionsgeschichte, ist ein Gott oder eine Göttin in menschlicher Gestalt bzw. eine Verkörperung des Göttlichen. Ob dies nicht in einem erweiterten Sinn für alle Menschen gelte, fragte ich die Göttliche. Und ob sie bereit sei, mich künftig statt mit Roland mit «Göttlicher Vater» anzureden. Die Avatarin bewies Humor und versprach, mich so zu nennen. Vielleicht wundert sich der eine oder die andere, wie ich zu diesem illustren Telefonkontakt kam, aber ich war damals Redakteur bei «connection» – da gehörten Begegnungen wie diese zum Alltag.



In dieser Zeit also lernte ich so allerhand über Avatare, und die Art des Umgangs der Medien mit diesem nun kinoreifen Begriff erscheint mir deshalb recht oberflächlich. Eine Verkörperung des Göttlichen auf Erden also. Man könnte Jesus als einen Avatar bezeichnen. In neuerer Zeit wird häufig der angeblich wundertätige Guru Satya Sai Baba als Avatar bezeichnet. Der Hindu-Legende nach ist auch Krishna, der Held der hinduistischen „Bhagavad Gita“, ein Avatar, speziell eine von neun Verkörperungen der Gottheit Vishnu. Und hier wird es interessant, denn Krisna wird in der Kunst stets mit einer blauen Hautfarbe dargestellt. Nicht die Schlümpfe, wie in den Rezensionen zu Camerons Film immer wieder erwähnt wird, könnten also den blauen Na’vi als Vorbild gedient haben, sondern eine der bedeutendsten Figuren der Hindu-Mythologie.



Wer Computer-Spiele liebt, denkt bei «Avatar» selbstverständlich noch an etwas anderes. In «Second Life» und vergleichbaren «Multi-User-Rolegames» im Internet steht das Wort für den virtuellen Stellvertreter eines realen Menschen, der im Spiele-Universum ein «zweites Leben» für ihn lebt und von ihm per Mausklick gesteuert werden kann. Das Wort ist hier seiner spirituellen Bedeutung ganz entkleidet. Oder doch nicht? Gleichen die Welten moderner Computerspiele wie «World of Warcraft» nicht fremden Planeten? Sind die Programmierer nicht irgendwie Schöpfergötter, die neue Welten mit skurrilen Kreaturen erschaffen? Und sind Spieler, die sich einen virtuellen Stellvertreter kreieren, nicht in gewisser Weise Seelen, die sich auf einem fremden Planeten inkarnieren, dort Erfahrungen machen, Freundschaften schliessen, lieben, leiden und sterben?



Der Unterschied zu einer realen Verkörperung besteht nun darin, dass der Computer-Spieler gegenüber seinem Avatar einen gewissen Sicherheitsabstand wahrt. Der Spieler also weiss in jedem Moment, dass er spielt; wir in unser irdisches Schicksal Eingesponnenen wissen es in der Regel nicht. Das Wissen darum, dass es sich bei virtuellen um eine «uneigentliche» Existenzform handelt, erspart dem Spieler Leiden. Er weiss, dass er in Wirklichkeit etwas Anderes ist als die Spielfigur. Aus der Perspektive des Avatars wiederum ist der reale Spieler in gewisser Weise ein transzendentes Wesen, ein Gott. Nur der Spieler ist es ja, der im Avatar entscheidet und handelt. Im Kern sind Spieler und Avatar also eins. Der Spieler existiert auch ohne sein virtuelles Gegenstück, ohne den Avatar könnte sich der Spieler in der virtuellen Planetenwelt des Spiels aber nicht ausdrücken. Jeder der beiden braucht also den anderen.



Hier entfalten Computerspiele eine ausgeprägte spirituelle Bedeutung. Der Spieler drückt sich durch den Avatar aus, Gott durch die irdische Verkörperung eines Menschen. So behaupten es jedenfalls jene spirituellen Richtungen, die glauben, dass alles göttlich und mit Gott verbunden ist. Nur werden wir «Normalsterblichen» üblicherweise nicht «Avatar» genannt. Krishna wird so genannt, Yogananda oder Sai Baba. Was also ist der Unterschied? Er besteht darin, dass ein «echter» Avatar weiss, dass er spielt. Er weiss von der Uneigentlichkeit der menschlichen Existenz. Er weiss um seine Identität mit dem «Spieler». Und er kommt in der Regel mit einem bewussten Auftrag auf die Erde, während unsereins oft noch recht verloren umher irrt.



Ist es nun möglich, von diesen Überlegungen eine Brücke zum Film «Avatar» zu schlagen, oder wurde hier lediglich ein ehrwürdiger Hindu-Begriff ins Banale gezogen? Ich glaube, dass in der Wahl des Film-Titels mehr Tiefe steckt als die meisten Kino-Magazine erkennen lassen. Der im Film von Sam Worthington gespielte Held Jake Sully verpflanzt quasi seine Seele in den Körper eines Na’vi, eines Ureinwohner des Planeten Pandora. Dieser genetisch reproduzierte Stellvertreter ist sein «Avatar». Gleichzeitig behält Sully aber seine irdische Existenzform, behält das Bewusstsein dessen, wer er wirklich ist und wozu er sich auf Pandora «inkarniert» hat. Jake Sully weiss, dass er nur spielt.



Echte Avatare, so besagt der Hindu-Glaube, verkörpern sich auf der Erde, um den Menschen zu helfen, um ihnen durch ihr überlegenes Bewusstsein wertvolle Entwicklungsimpulse zu geben. Sully im Film ist ein Avatar, der nicht gekommen ist, um zu helfen, sondern um der Ausbeutung und Naturplünderung Vorschub zu leisten, um den Menschen die wertvollen Rohstoffvorkommen auf Pandora zu erschliessen. Eine kapitalistische Zerrform dessen, was ein Avatar ursprünglich sein sollte, eine Inkarnation des «Teufels», wenn man so will. Der Held allerdings beweist ein gutes Herz, verliebt sich in eine Ureinwohnerin und wird am Ende doch zu einem Helfer - zu dem, was einen Avatar der Hindu-Mythologie ausmacht.



Der Entwicklungshelfer und der ausbeutende Kolonialherr – diese beiden Aspekte des Phänomens «Kolonisation» waren einander schon immer gefährlich nahe. Im Film «Avatar» werden beide angesprochen. Das macht einen Teil der Zeitlosigkeit dieses Stoffes aus. In seiner spirituellen Aussagekraft ist der Film jedoch vor allem ein Verwandter der metaphysisch anspruchsvollen Matrix-Trilogie. Der Film-Planet Pandora gleich einer Computerspielwelt, ist in gewisser Weise aber auch ein Bild unseres irdischen Lebens.



Von irgendwo her, aus einer überlegenen Zivilisation kamen vielleicht einmal Wesen zu uns, die aussahen wie wir, aber im Innersten etwas ganz anderes waren. Weil sie wussten, dass ihr Reich nicht von dieser Welt war. Weil sie wussten, dass diese Welt nicht alles ist, was existiert. Weil sie wussten, dass dieser Planet in das Spannungsfeld überlegener ausserirdischer Kräfte geraten war, die uns «Ureinwohnern» nicht unbedingt wohl gesonnen waren. Ob Jesus oder Krisna – Gläubige vieler Religionen glauben, dass es solche Avatar-Wesen in der Menschheitsgeschichte tatsächlich gegeben hat oder gibt.



Ich weiss nicht, ob ich das Thema hiermit «zu Ende gedacht» habe – wahrscheinlich ist das nicht möglich, und jeder Filmzuschauer soll sich selbst seine Gedanken macht. Ich weiss auch nicht, ob Avatara Devi mit dieser Interpretation «ihrer» Existenzform zufrieden wäre. Ich glaube nur, dass hinter James Camerons Effekt-Spektakel möglicherweise mehr steckt als auf den ersten Blick zu erkennen ist.

21. Dezember 2009
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