Was uns befreit
Die Fesseln, die wir der Natur anlegen, sind unsere eigenen. Die Samstagskolumne
Vor vielen Jahren war ich wandernd in Schottland unterwegs. Bei meinen ersten Ausflügen in die wilde Heidelandschaft war ich auf der Suche nach Wegen, denen ich mich anvertrauen konnte, die mich in die fernen Berge führen könnten und sicher wieder zurück. Aber es gab keine, nur eine unter meinem Schritt weich nachgebende Erde und brusthohes Heidekraut.
Mein wegegewohnter Geist musste sich seinen eigenen Weg suchen. Und mein wegegewohnter Körper musste – Landschaft, Entfernung, Steigung und Wetter berücksichtigend – abschätzen, wie weit er gehen konnte, ohne in Gefahr zu geraten. Dann spürte ich die Einschränkung, blieb aber ungekränkt, denn ich war frei, mich zu wenden, wohin ich wollte. Dann gewannen Wind, Strauch und Erde einen neuen Sinn und ich spürte eine Qualität von Freiheit, die ich, von Wegen eingeschränkt, zuvor nie erlebt hatte.
Das Mass der Unfreiheit
Die Wege, die wir der Natur aufzwingen, sind die Muster, mit denen wir uns binden. Sie erscheinen uns einfacher als das Querfeldein-Gehen, Querfeldein-Denken und Querfeldein-Fühlen. Dabei erschien uns doch das Waschbrett als eine Errungenschaft, und wie erst die Waschmaschine. Welcher Gewinn war unsere Fähigkeit, den Willen eines Pferds zu brechen und es uns untertan zu machen; Gestein zu brechen, ihm Metalle zu entreissen und daraus Fahrrad, Auto und Flugzeug zu formen.
Aber die Opfer, die wir dabei brachten, die Masse und Unmasse an Unfreiheit, die wir dafür eintauschten, bemerkten wir nicht. Erst recht nicht, als wir die Voraussetzungen für all das schufen, indem wir das Lebendige um uns in Dinge verwandelten, das Geheimnisvolle ins Kalkulierbare. Nicht mehr Natur war es, was wir sahen, sondern käuflicher Acker, schlagbares Holz, brechbarer Stein und nutzbares Haustier, statt wilde Erde, freier Baum, heiliger Fels und Tiergeschwister.
Die Erfindung des Fremden
Und wurden uns dabei selber fremd: Hier war das Ich und dort der Körper, hier ich und dort du; hier der Christ und dort der Heide; hier meine Nation und dort die fremde. Solange ich mich verletzte, spürte ich die Verbindung noch, doch wenn ich andere verletzte, unterdrückte und ermordete, konnte mir das egal sein. Der andere war nicht ich, sondern der Fremde, war ebenso wenig ich wie Acker, Holz und Stein, die sich mir fügen mussten, die ich nach meinem Willen formen konnte, damit sie mir Gewinn abwarfen. Und das Fremde war bedrohlich, solange ich ihm nicht meine Gewalt angetan und es mir unterworfen hatte.
Die Wurzeln durchhauen
Und die Seele? Wie erging es der, die sich doch einst – innig eins mit Erde, Baum, Fels und Tier – ahnend und träumend bewegen, untertauchen, auftauchen, fliegen durfte? Wir mussten sie aus diesen Bindungen lösen, mussten ihre Wurzeln durchhauen, um sie neu binden zu können. Also trennten wir uns von Mythos und Magie, die uns durch Furcht, Staunen und Wunder mit der Natur verbunden hatten. Wir verbannten die Geister ins Reich der Phantasie und erfanden die Götter, die wir nach unseren Vorstellungen formten. Wir erfanden die Religion und die Herrschaft, die Minute, das Mass und den Meter. Und mit jeder Erfindung wurden wir immer mehr uns selbst genug und schienen uns – mit jeder weiteren Fessel – mehr und mehr zu befreien.
Die listige Seele
Aber die Seele war listig, denn sie ist grösser und weiter als Vernunft und Wissenschaft. Sie zeigte uns Wege in die Heimat, die nicht mehr die alten, lang verlassenen sein konnten. Sie führte uns in die Geheimnisse von Pflanzen und Pilzen ein, sie lehrte uns den Blick hinter die verführerischen Kulissen des Verstandes, hinter Ursache und Wirkung, in die Betrachtung unserer Selbst, in die Tiefe hinter dem Fremden. Sie durchleuchtete unsere selbstverfertigten, kategorischen Wände und lehrte uns das Fragen. Sie öffnete uns für die Reiche von Poesie, Musik, Meditation und Geist und befähigte uns zu einer neuen, Grenzen überschreitenden Rückkehr. Nachdem wir mit dem Feuer die Nacht bezwungen haben und mit Wissenschaft die Natur, weist sie uns neue Wege in die Nacht und Möglichkeiten der Heimkehr.
von:
Über
Bobby Langer
*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können