«Werden wir nicht, ohne es zu wollen, zu Schaulustigen?»

Wie uns die britischen Truppen in Belfast keine Sicherheit, sondern ein Gefühl der Bedrohung vermittelten – und wie wir am gleichen Tag zwei Umzüge erlebten, die nicht gegensätzlicher hätten sein können. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #47» von Nicolas Lindt.

Eine britische Telefonzelle – und eine weniger britische Mauerparole im Sommer 1972. / © Nicolas Lindt

Juli 1972. Angekommen in Ballymurphy, dem katholischen Arbeiterviertel, wagten wir uns am Nachmittag in die Belfaster City. Noch herrschte eine lauernde, täuschende Ruhe, noch blieb die Stadt von neuen Bombenanschlägen verschont, doch inzwischen hatte die IRA ihren Waffenstillstand für beendet erklärt.

«Obwohl es ein Dienstag ist, sind die meisten Geschäfte verbarrikadiert», schilderte ich das Bild, das uns in der City erwartete. «Business as usual steht am Eingang der Läden, doch es herrscht keine Einkaufsstimmung. Die Passanten haben es eilig, aus der Gefahrenzone herauszukommen – auch wenn diese Zone überall ist. Und die allgegenwärtige Präsenz der Armee vermittelt den Menschen nicht ein Gefühl von Sicherheit, sondern ein Gefühl der Bedrohung. In fünf Metern Abstand von Mann zu Mann patrouillieren die Soldaten der Strasse entlang, bleiben stehen, sobald der Abstand zu gross wird, setzen ihren Weg fort, in schweren Stiefeln, die Maschinenpistole immer im Anschlag. Sie halten die MP gesenkt, aber eine falsche Bewegung eines Passanten genügt schon, dass die Waffe erhoben wird. Viele der Soldaten kommen als Arbeitslose aus Schottland und Wales, blutjunge Burschen, so jung wie viele der Provos, aber ohne inneres Feuer, mit kindlich verängstigter Miene. Ihre Angst ist begreiflich, denn jederzeit kann ein Heckenschütze sie treffen.»

Ich beobachtete die Soldaten und verspürte, trotz meinem Engagement für die Sache, keinen Hass gegen sie. «Sie sind überfordert, und die Informationen, die sie erhalten, sind einseitig. Deshalb auch ihr oft so gewaltsames Vorgehen gegen die Katholiken. Sollen wir einen von ihnen ansprechen? Wir verzichten darauf, weil sie zu Recht ein Ablenkungsmanöver dahinter vermuten könnten.»

«Gegen Abend leert sich die City, wir finden mit Mühe ein Restaurant, wo wir beim Essen von den patrouillierenden Soldaten, die draussen vorbeigehen, durch die Fensterscheibe beobachtet werden. Wir fühlen uns unbehaglich, wie wir da so sitzen und essen, während die Menschen draussen im Krieg sind.»

Dass wir an diesem Abend in Belfast eine «besonders gespannte Ruhe» erlebten, hatte mit einem Ereignis des folgenden Tages zu tun, von dem uns der junge Provo, der uns nach Belfast mitgenommen hatte, sagte: «Das solltet ihr nicht verpassen. Wenn ihr das seht, begreift ihr einiges.»

Der folgende Tag war der 12. Juli, an dem in jeder grösseren Stadt des Nordens die «Orange Parade» veranstaltet wurde, ein protestantischer Umzug in Erinnerung an den Sieg der Briten über die Iren in der Schlacht bei Boyne 1690. Daraus ging die Gründung des «Oranje-Ordens» hervor, dessen zahlreiche Mitglieder Jahr für Jahr zu den Paraden zusammenfinden. Schon auf der Fahrt Richtung Nordirland am Abend davor hätten wir nicht übersehen können, dass jede Kleinstadt üppig geschmückt und bewimpelt war mit der britischen Flagge des Union Jack, mit Bildern der Queen und Spruchbändern, die die Einheit mit Grossbritannien beteuerten. Die protestantische Mehrheit in der Provinz schien erdrückend – doch in Belfast war die Beflaggung an diesem Abend zurückhaltender, vermutlich, um die katholische Minderheit nicht noch mehr zu provozieren. Denn die jährliche Provokation bestand nur schon darin, dass die Orange Parade traditionsgemäss auch ein katholisches Viertel durchquerte.

Um die protestantische Machtdemonstration mitzuerleben, standen deshalb auch wir am folgenden Nachmittag in der City am Strassenrand. Ein immenses Aufgebot von Soldaten und paramilitärischen Protestanten sicherte die Parade. Das Risiko eines Attentats der Provisional IRA war natürlich nicht auszuschliessen, aber die Protestanten hätten den Marsch niemals abgesagt.

In der Schilderung meiner Eindrücke konnte ich nicht neutral bleiben: «Wenn man die herausfordernden, siegesbewussten Sonntagsgesichter der vorbeimarschierenden alten und jungen Protestanten sieht, begreift man, wie sehr sich diese Menschen noch immer als herrschende Klasse Nordirlands fühlen. Sie dominieren mit ihrem jährlichen Umzug die ganze Provinz, als ob sie allein in Nordirland lebten und auf den katholischen Bevölkerungsteil keine Rücksicht zu nehmen hätten. Die Katholiken sollen gefälligst in ihren Gettos bleiben. Nicht zufällig lautet eine häufige Mauerparole in den protestantischen Vierteln: Fuck the Pope!»

Die Orange Parade findet heute noch statt, und der 12. Juli ist in Nordirland noch immer ein gesetzlicher Feiertag. Immerhin haben die Katholiken mittlerweile ein kleines Zugeständnis erhalten: Der Umzug führt heute nicht mehr durch das katholische Viertel.

Während der Parade an jenem Tag kam es zu keinen grösseren Zwischenfällen. Die IRA, so schien es, hielt ihre Waffenruhe noch aufrecht. Dass am gleichen Tag im Schatten der Orange Parades ein 15-jähriger Katholik in Belfast, ein 21-jähriger Protestant in Belfast, ein 19-jähriger Protestant in Portadown und zwei Katholiken in Portadown Opfer von gezielten Tötungen wurden, gehörte gewissermassen zum täglichen Blutzoll.

Erfüllt, mehr denn je, von Solidaritätsgefühlen mit der katholischen Minderheit, liessen wir den bizarren Umzug durch die verwundete Stadt hinter uns und beschlossen, unser Quartier aufzusuchen. Wie schon auf dem Hinweg ins Zentrum, nahmen wir auch für den Rückweg den Taxidienst von der City nach Balllymurphy in Anspruch – eine soziale Einrichtung und zugleich ein Beispiel für die katholische Selbsthilfe jener Zeit. Die Katholiken mussten sich selber helfen. Die Behörden dachten an sie zuletzt.

«Die zehnminütige Fahrt durch sehr unsicheres Gebiet», beschrieb ich die willkommene Dienstleistung, «ist im Taxi ziemlich risikofrei. Man bezahlt nur einen Franken, es sind Privatautos, deren Besitzer dadurch etwas Geld verdienen, und sie transportieren so viele Leute, wie sie ins Auto hineinbringen.»

«Zwei kecke junge Mädchen im Minirock warten mit uns aufs Taxi. Als wir ihnen erzählen, dass wir planen, noch am gleichen Tag nach Londonderry weiterzureisen, klären sie uns darüber auf, dass man Derry sagt und nicht Londonderry. Auch in solchen Details zeigt sich das früh einsetzende politische Bewusstsein der katholischen Jugend in Nordirland.

Dann kommen zwei Soldaten vorbei. «Oh, look at those two nice looking girls», sagt der eine, doch die beiden jungen Katholikinnen, die gerade noch mit uns scherzten, wenden sich verächtlich von den liebeshungrigen Tommys ab. Englische Soldaten, die im Dienste der englischen Unterdrücker stehen, bekommen von ihnen kein Lächeln geschenkt.»

Dass dieser letzte Satz im Tages-Anzeiger erscheinen durfte, erstaunt mich, denn er bringt deutlich zum Ausdruck, dass ich Berichterstattung und Parteinahme nicht trennen wollte. Obwohl ich mich damals als junger Journalist sah, war ich im Grunde keiner und bin es auch nie richtig geworden, wie sich noch zeigen wird. In einem ernstzunehmenden journalistischen Text jedenfalls hätten die «englischen Unterdrücker» nichts zu suchen gehabt. Aber in meiner stürmischen Solidarisierung überlegte ich mir das gar nicht. Waren die Briten etwa keine Unterdrücker? Und hatten sie nicht, viele Jahrhunderte lang, ganz Irland beherrscht?

«Mit dem Taxi endlich aus dem Zentrum hinaus», erzählte ich weiter, «durch die öden, zerstörten Viertel, an den Barrikaden vorbei, die oft von Kindern an jeder Seitenstraße errichtet werden. Dann plötzlich ein Stocken im Verkehr. Der Wagen vor uns wird von Jugendlichen umringt. Sie halten dem Fahrer eine Pistole an den Kopf, steigen ein und bedeuten ihm, weiterzufahren. Es sind Skinheads, junge Arbeitslose, die sich einen Spass daraus machen, Autos zu hijacken. Sie verwenden das Fahrzeug als brennende Barrikade oder für einen Bombenanschlag der IRA. Selbst die Passagiere in unserem Taxi schimpfen über die Jugendlichen. Doch die Gewalt ist schon so weit eskaliert, dass ein Rückweg immer unmöglicher wird.»

Wieder in Janets Wohnung in Ballymurphy, fühlten wir uns auf einmal unsicher: «Immer wieder sind Schüsse zu hören, zum Teil ganz nah. Protestantische Snipers schießen von den Hügeln herunter in die katholischen Gebiete hinein, IRA-Schützen erwidern das Feuer – dazu das unfreundliche Wetter, der Katzenuringestank in der Wohnung, Janet selbst ist nicht da: Was sollen wir jetzt noch in Belfast? Werden wir nicht, ohne es zu wollen, zu Schaulustigen?»

Wir entschieden uns weiterzureisen, und begaben uns wieder zum Taxistand, wo wir in einem der Taxis bis zum Ausgang von Ballymurphy mitfahren konnten. «Unterwegs kommen wir am Friedhof vorbei – und als wäre er inszeniert, nähert sich ein Trauerzug dem Ausgang des Friedhofs. Der Gegensatz zur protestantischen Orange Parade könnte nicht schreiender sein. Schwarzgekleidete Trauernde unter dem düsteren Himmel, viele ganz junge Menschen, gesenkte Köpfe – und mittendrin, uniformiert und maskiert, mit seitlich getragener Baskenmütze die Männer der IRA, die auf ihren Schultern den Sarg mit sich führen. Ein weiteres Opfer des Bürgerkriegs wird zu Grabe getragen. Das ist unser letzter Eindruck von Ballymurphy.» 

Noch viele Jahre lang blieb das katholische Wohngebiet im Zentrum der Unruhen. Inzwischen ist längst auch in Ballymurphy das normale Leben zurückgekehrt. Doch das Massaker im August 1971 brennt als offene Wunde, noch immer. Mit den zehn Toten und über 30 teilweise Schwerverletzten war es nicht weniger schlimm als das Blutbad ein halbes Jahr später in Derry. Dennoch blieb Ballymurphy im Schatten des «Bloody Sunday» von Derry, für den sich die britische Regierung viele Jahre danach bei den Angehörigen formell entschuldigte. Die Familien der Toten von Belfast jedoch mussten sich weiter gedulden. Erst 2021 kam ein Untersuchungsbericht zum Ergebnis, dass die Tötungen auch im Falle von Ballymurphy ungerechtfertigt gewesen waren.

Auf eine offizielle Entschuldigung durch die Regierung warten die Menschen von Ballymurphy bis heute.

 

Fortsetzung folgt am 30. April … 

 

Mehr zum Thema in diesem Bericht des BBC: 50 Jahre mussten vergehen, ehe 2021 die Unschuld der Opfer des Massakers von Ballymurphy bestätigt wurde.

 

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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