Wie wir eine literarische Zeitschrift gründeten – und Mensaverbot erhielten
Wichtiger als eine Biologieprüfung. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #18
Die Freundschaft mit meinem Schulkameraden Elias war intensiver geworden, nachdem wir entdeckt hatten, dass wir uns als beinahe Einzige in der Klasse immer mehr für Literatur interessierten. Nach dem Besuch einiger Lesungen junger Autoren beschlossen wir ziemlich spontan, eine literarische Zeitschrift herauszugeben.
Anfänglich nannten wir sie «Kulturell-Aktuelle Mittelschulzeitung» und verkauften die mit Bostitch zusammengefügten Blätter vor allem an den Eingängen der Gymnasien. Den Druck besorgte der Hauswart unserer Schule. Wir hatten ihn wie alle anderen Schüler als unzufriedenen, ständig schimpfenden Menschen kennengelernt, doch unsere neue, sozusagen geschäftliche Beziehung zu ihm entlockte ihm manchmal sogar ein Lächeln. Gegen ein kleines Entgelt war er bereit, die Druckvorlagen, die wir ihm brachten – Matritzen genannt –, auf der Vervielfältigungsmaschine in seinem Büro zu drucken.
Neben Veranstaltungshinweisen, Interviews und Buchrezensionen enthielt die Zeitung vor allem unveröffentlichte Gedichte und Prosatexte junger Autoren. Wir verkauften die erste Nummer der Zeitung deshalb auch im historischen Café «Odeon», das zu jener Zeit noch immer als Treffpunkt der Zürcher Kultzurszene galt. Zu unserer Freude stiess das dilettantisch gemachte Blättchen unter den Literaten im verqualmten Café auf erstaunliches Interesse. Von der zweiten Nummer setzten wir im Odeon bereits 50 Stück ab, während wir an den Schulen bei weitem nicht den gleichen Erfolg hatten.
Darauf tauften wir die Zeitung in «manuskript« um und verkauften schon Nummer 3 nicht länger an Schulen, sondern überall dort, wo in der Stadt kulturell etwas lief: An Lesungen, vor den Theatereingängen und vor allem im Odeon. Unversehens waren zwei blutjunge Gymnasiasten – Elias war 16, ich immer noch 15 – zu den Herausgebern einer literarischen Strassenzeitschrift geworden, wie es in Zürich zu jener Zeit keine zweite gab.
Sie erschien alle zwei Monate, wurde von Nummer zu Nummer ambitionierter, und zu den Autoren, die uns bereitwillig ihre Texte schickten, gehörten bald auch bekanntere Namen. Der Geschichte von «manuskript« – soviel sei hier vermerkt – werde ich eine Sonderfolge innerhalb meiner Chronik widmen. Denn das Heft, das innert kurzer Zeit in der literarischen Szene der Stadt zu einer fast schon gefragten Grösse wurde, eine Auflage von 1000 Exemplaren erreichte und auch Inserate von Buchverlagen enthielt, begleitete Elias und mich bis zum Ende unserer Schulzeit.
Die Zeitschrift beanspruchte einen Grossteil unserer Freizeit – und gefährdete verständlicherweise unsere schulischen Leistungen. Denn so ganz nebenbei, neben meiner Arbeit am «manuskript« und neben meiner Musikkolumne, war ich ein Schüler wie jeder andere auch. Während wir abends bereits in literarischen Kreisen verkehrten, drückten Elias und ich am anderen Morgen wieder die Schulbank. Und wie die folgende Episode zeigt, die ich im Tagebuch protokollierte, hatte die Schulleitung nicht den geringsten Respekt vor unserem löblichen Engagement.
In den ersten Jahren an der Höheren Schule – bevor wir entdeckten, dass wir uns auch auswärts verpflegen konnten – assen wir über Mittag jeweils in der Mensa der Schule. Damals hiess die Mensa Kantine, was auch treffender war, denn der städtische Frauenverein, der die Kantine führte, war zu jener Zeit nicht bekannt für eine besonders genussfreudige Küche. Doch wir Schüler mussten damals nichts Besonderes essen. Die Schulordnung sah das nicht vor. Hauptsache, wir waren gesättigt und leistungsfähig.
Auch Elias und ich nahmen mit der Kantine vorlieb, doch um Geld zu sparen, bestellten wir jeweils ein Menu zu zweit und teilten es uns. Den zweiten Teller und das zweite Besteck bekamen wir aber nicht kostenlos. Dafür mussten wir jedesmal 20 Rappen extra entrichten. Eines Mittags nun im Monat Dezember schöpfte uns nicht die Dame des Frauenvereins, sondern eine Küchenhilfe das Essen. Als ich zum zweiten Teller und zum zweiten Besteck griff, zwinkerte mir die Gehilfin so freundlich zu, dass ich glaubte, sie wolle mir signalisieren, ich müsse nichts dafür zahlen.
Darauf begaben sich Elias und ich, ohne die 20 Rappen beglichen zu haben, zu einem der Tische und widmeten uns dem Essen. Im Tagebuch erzähle ich weiter: «Plötzlich kam die Chefin, ein aufgeregtes älteres Huhn, schimpfte, dass wir geschummelt hätten. Sie war ganz ausser sich und drauf und dran, einen Lehrer um Hilfe zu rufen. Dann zog sie sich wieder zurück, bedachte uns aber mit bösen Blicken, und als wir noch ein zweites Getränk holen wollten, entlud sich ihr ganzer Zorn. Sie jagte uns buchstäblich zur Kantine hinaus, sagte alles dem Prorektor, der uns einige Tage später ins Gebet nahm und uns mit Kantineverbot bis zum Frühling bestrafte.»
Damit nicht genug. Wenige Wochen später, im Januar 1970, fand an unserer Schule zur staatsbürgerlichen Erbauung ein Podiumsgespräch über die umstrittene Schwarzenbach-Initiative statt, die noch im gleichen Jahr zur Abstimmung kommen sollte und die Regierung bei einem Ja dazu verpflichtet hätte, der Überfremdung des Landes entgegenzuwirken und den Ausländeranteil – der heute bei 26 Prozent liegt – auf 10 % zu beschränken.
Da die Veranstaltung nur für die höheren Klassen gedacht war, durften wir offiziell nicht daran teilnehmen. Doch Elias und mich interessierte das Thema brennend, und eine freie Zwischenstunde erlaubte uns, die Veranstaltung zu besuchen. Als sie nach einer Stunde noch immer im Gange war, hätten wir aufstehen und gehen müssen, weil uns in der Biologie eine Prüfung erwartete. Doch wir blieben. Das Podiumsgespräch war einfach zu spannend. Die kontroverse Diskussion machte uns deutlich, wieviel uns das Thema angehen würde, wären wir nur erst erwachsen.
Als der Anlass zu Ende war, meldeten wir uns beim Naturkundelehrer, der uns eine Strafstunde gab. Mehr gleichgültig als schuldbewusst schluckten wir sein Verdikt. Im Tagebuch fuhr ich fort:
«Was aber gemein von ihm war: dass er die Strafstunde dem Prorektor meldete, der uns erneut zitierte und andonnerte, jetzt habe er dann genug von uns – zuerst die Geschichte mit der Kantine, jetzt das Fernbleiben von der Biologiestunde. Wie wenn eine Diskussion zu einem aktuellen politischen Thema nicht wichtiger wäre als eine Naturkundeprüfung über Chordatiere.»
Mein Interesse an Politik war inzwischen so gross, dass mich die Strafstunde und der Verweis des Prorektors nicht zur Räson bringen konnten. Ich muss mir aber zugutehalten, dass ich trotz meiner Ausbruchsversuche aus dem frustrierenden Schülerdasein realistisch genug war, mein schulisches Defizit ernstzunehmen. Der Tagebucheintrag endet mit den Worten:
«Im Moment bin ich in drei Fächern ungenügend: Physik 2,9 Mathematik 3,0 Buchhaltung 3,7. Das muss sich ändern, damit ich nicht ins Provisorium gerate.»
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von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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