Wilhelm Tell - eine Begegnung

Wilhelm Tell – es gibt ihn, es gibt ihn nicht. Der Pendelschlag einer Wanduhr liess mich verzweifeln. Ich schaute auf mein Handgelenk und dann ins Leere, zerpflückte Margeriten noch und noch: Es gibt ihn, es gibt ihn nicht... es gibt ihn nicht und doch!

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All meine Nachforschungen über Tell, Wilhelm Tell, waren bis zur Stunde erfolglos geblieben. Sie verliefen im Sand. Ich hatte sämtliche Bibliotheken im Umkreis von zehn Kilometern durchforstet, staunte über so viel Material, stöberte nächtelang darin, zog den Kopf ein, wenn die Historiker über mir die Klingen kreuzten, kroch unter die Bettdecke, um ihren Bosheiten zu entgehen, und musste am Ende einsehen, dass ich auf diesem Weg der Wahrheit auch nicht näherkommen würde. Also packte ich kurzerhand alles Material zusammen, entschuldigte mich bei den Verfassern, lobte sie für ihre Müh‘ und lieferte den Bücherberg vor Monatsfrist in den Bibliotheken wieder ab. Man gab sich erstaunt; ich war erleichtert, entschlossen, die Aufgabe auf meine Weise anzugehen.

Anderntags stand er bereits vor mir, vor der frisch getünchten Malwand in meinem Atelier. Wilhelm Tell. Ohne meine Anweisungen abzuwarten, hatte er sich bereits in Stellung begeben: selbstbewusst, standhaft, unverrückbar. Mit einem unausgesprochenen, fast trotzigen «So bin ich - So bleibe ich.» Er hatte mir nicht einmal die Zeit gelassen, mir vom Bild, das es zu zeichnen galt, eine Vorstellung zu machen. Wollte ich ihn sitzend oder stehend porträtieren? Im Profil, im Halbprofil oder frontal? Mit oder ohne Armbrust? Mit oder ohne Walterli?

Und erst, wie er in der Tür erschienen war! Nicht atemlos, wie es sich vermuten liesse nach einem vier Treppen hohen Aufstieg unters Dach. Er hätte den Lift benützen können; niemand würde es ihm verargen in seinem Alter. Tell, wohl Gedanken lesend, hatte beiläufig zum Ausdruck gebracht, Aufzüge seien allenfalls für Samichläuse gut. Noch im Abschütteln dieser für ihn wohl absurden Vorstellung, hatte er den Raum auf mein Geheiss hin betreten, sich umgeschaut, sichtlich bemüht, die Neugier zu zügeln; hatte staunend seinen Blick ins weite Giebeldach gehoben, sein Gewicht gegen einen Balken gestemmt, dessen Stabilität gemessen, ihn auf seine Echtheit hin geprüft, um alsdann mit der Handfläche liebevoll glättend über das einheimische Fichtenholz zu streicheln und es abschliessend zu tätscheln wie ein Pferd, dem man seine Genugtuung zum Ausdruck bringen will.

Ich gestehe: Meine Einladung an Tell zu einer Porträtsitzung war ein Vorwand gewesen, ein Versuch, seine Bekanntschaft zu machen, eine Möglichkeit, ihn zu Gesicht zu bekommen, vorausgesetzt, dass es ihn gab. Ich wusste: Männer sind eitel, da stehen sich die Grossen der Geschichte in Nichts nach. Wenn sie für die Ewigkeit festgehalten werden sollen, sind sie mit einem Fingerzeig zur Stelle. Und wie erhofft, fast vermutet: Auch Tell war nur ein Mann.

Dennoch war ich ein wenig stolz, ihn vor die Palette zu bekommen. Das Vertrauen, das er mir entgegenbrachte, rührte mich im Innersten. Er ging unbesehen davon aus, dass ich gute Arbeit leistete. Also wollte ich mein Bestes geben, ein Bild von ihm zeichnen, das seiner Persönlichkeit voll und ganz gerecht würde. Ich nahm Kohle und Papier zur Hand, setzte mich auf meinen Arbeitsstuhl, rückte auf seinen vier Rädern scheppernd durch den Raum, vor und zurück, hin und her, bis der richtige Gesichtspunkt ausgelotet war.

Tells Augen folgten gespannt jeder meiner Verrichtungen. Die Armbrust geschultert, den linken Arm um Walterli gelegt, drückte seine Haltung Überlegenheit und Bescheidenheit, Kampfesmut und Beschützergeist gleichermassen aus. Ich erschrak nicht wenig ob der Feststellung, dass es mir offenbar nicht möglich war, ein anderes als das gewohnte Bild von ihm zu machen. War es nicht meine erklärte Absicht gewesen, TeIl einen neuzeitlichen, modernen Anstrich zu verpassen?

Mir wurde klar: Diese Absicht musste ich nun fallen lassen. Ich musste überhaupt jede Absicht fallen lassen, wenn ich dem Geheimnis näherkommen wollte. Tell nickte zustimmend, ermutigte mich, mit der Arbeit zu beginnen. Ich stand noch einmal auf, holte eine Kerze, suchte nach Streichhölzern, entfachte ein Licht. Jetzt müsste es gehen. Es ging nicht. Ich fing an zu frieren, zu schlottern. Ich stellte die Heizung auf Hochtouren, steckte meine Füsse in Wollsocken, zog eine Daunenjacke über und setzte Wasser auf für einen heissen Tee. Der Versuchung, unter die Bettdecke zu entfliehen, widerstand ich heroisch – hoffte auf den Tee, der mich von innen wärmen würde.

Und tatsächlich: Schluck für Schluck trat Ruhe ein in meinen Körper. Die Hände waren aufgewärmt, die Wangen glühten, nur die Füsse liessen wie immer auf sich warten. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren. Meine Konzentration war nun ganz auf Tell gerichtet, auf seine wasserblauen Augen, die mich magisch anzuziehen schienen und mir zu verstehen gaben, dass meine Hingabe mich auf den Grund ihrer Wahrheit führen würde. Einzig das Kommen und Gehen meines Atems war vernehmbar, das Heben und Senken meiner Brust. Die Augen zugekniffen, den Kohlestift fest in der Hand, ging es jetzt ans Werk. Doch kaum hatte ich die ersten mutigen Striche angebracht, um Tells Augen zu markieren, geschah das Unerhörte. Ihr Wellengang erfasste mich. Noch versuchte ich mich festzuhalten – ich wurde weggespült wie nichts. Ein Wirbel packte mich mit voller Wucht und zog mich in die Tiefe. Es wurde Nacht um mich.

Wie ein abgestürzter Vogel lag ich da. Benommen schaute ich mich um, versuchte, mich zu orientieren, registrierte mit Erleichterung, dass Tell an meiner Seite war. «Aufstehen – mit- kommen!», war unwirsch sein Befehl, der keine Widerrede duldete. Ohne eine Erklärung ab- zugeben, machte er auf seinem Absatz kehrt und gab mit einer abrupten Kopfbewegung die allgemeine Richtung an. Mühsam rappelte ich mich auf. Ergeben heftete mich an seine Fersen. Keuchend folgte ich seiner Spur. Meine Fragen blieben auf der Strecke.

Der Ausmarsch führte uns zurück, zurück durch die Jahrhunderte in eine längst vergangene und doch alt vertraute Welt. Irgendwann fiel mir auf, dass der Weg eigenartig mit Aufschriften übersät war. Immerfort kam mir der Name TeIl entgegen. Beim näheren Hinschauen stellte sich heraus, dass die Strasse gepflastert war mit Büchern – mit all den Büchern, die über Tell weltweit je geschrieben worden waren. Ihre Titel glänzten in Gold und Silber und Bronze, in allen Schriften und Sprachen. Nicht ohne Stolz sah ich an meinem Begleiter empor. Tell seinerseits zuckte die Schultern, – amüsiert und herablassend zugleich – ging unbeirrt über die Bibliothek hinweg, schritt gar eine Spur schneller, bestimmter voran.

In Altdorf angekommen, führte die Route geradewegs über den Hauptplatz und dort zu einer Parkbank unter einem Lindenbaum. Tell nahm Platz, richtete sich häuslich ein und forderte mich auf, es ihm gleichzutun, währenddem er umständlich eine Tüte alten Brotes unter seiner Kutte hervorklaubte, sich anschickte, die Tauben zu füttern, und mich dem Schicksal überliess. Ich schaute mich neugierig um, blinzelte erwartungsvoll in den neuen Tag hinein und harrte der Dinge, die da kommen sollten – bis ein Hut, mitten auf dem Platz, an einer aufgepflanzten Stange baumelnd, meine Aufmerksamkeit erregte. Ich glaubte zu wissen, was nun kommen würde.

Der Ort erwachte. Erste Geister regten sich. Hier und dort gingen Türen auf, traten Männer aus den Häusern, überquerten den Platz, verbeugten sich vor dem Hut, um alsdann pflichtbewusst ihren alltäglichen Geschäftigkeiten nachzugehen. Später kamen die Frauen, die Kinder hinzu. Sie taten es einander gleich. Gleich unbedacht, mehr oder weniger ehrfurchtslos grüssten sie den Hut, oben auf der Stange, mitten auf dem Platz. Ameisen ähnlich, schienen sie einem genetischen Programm zu folgen. Ich staunte unentwegt, war über Stunden hinweg von diesem Treiben eingenommen. Gegen Abend erst, als sich die Menge lichtete, die späten Heimkehrer ihren letzten Gruss verrichteten, wurde ich unruhig.

Meine Stimmung sank zusehends. Ungeduldig blickte ich zu Tell hinüber, stellte mit Befremden fest, dass dieser keinerlei Anstalten machte, in das Geschehen einzugreifen. Noch immer warf er den Tauben Brotkrumen zu. Sein Vorrat war unerschöpflich, die Tauben schienen unersättlich. In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Diese Szene würde sich weitere sieben- hundert Jahre lang tagtäglich wiederholen, wenn keiner sich bereitfand, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Mit dem Hauptdarsteller war nicht mehr zu rechnen. Sein Heldentum Legende.

Ohnmacht und Wut stiegen in mir hoch, prasselten als Donnerwetter auf Tell nieder und lösten sich in Tränen auf. Ich war zerstört. Mit letzter Anstrengung forderte ich den Mann auf, mich nach Hause zu befördern. Wir brachen unvermittelt auf. Tell, unbeeindruckt von meinem Ausbruch, schritt wie eh und je aufrechten Ganges vor mir her und setzte mich zu Hause ab. Meine abgrundtiefe Enttäuschung schnürte mir die Kehle zu, schloss sich als bleierner Mantel um meine Brust und drückte mich zu Boden. Erschöpft dämmerte ich hinüber.

Die Nacht war tief und schwarz und traumlos. Draussen fegte ein Föhnsturm durchs Land, ergriff meine Seele, wirbelte sie hoch und schoss sie zu den Sternen. Als ich erwachte, die Augen aufschlug und die ersten Sonnenstrahlen durch die Fensterläden mir entgegenblinzelten, huschte ein Lächeln über mein Gesicht – ein Lächeln der Erkenntnis: Nein - nicht Tell war der Versager.

Nachtrag: Als ich vor ein paar Wochen dem Tell-Denkmal in Altdorf einen Besuch abstattete, sass dort auf einer Bank unter einem Lindenbaum ein bärtiger Mann in weisser Kutte und fütterte die Tauben. Da trat ein Tourist mit einem Kind an der Hand hinzu, und ich hörte, wie der Kleine zu dem Alten etwas scheu und unbeholfen sagte: «Mister, Tell, please tell me the story about him.»

Irene Maria Koller, geboren in der Bundesfeiernacht, ist eine politisch und religiös unabhängige Bürgerin, Grossmutter, Aktionskünstlerin, allein dem Leben verpflichtet. Als gebürtige Luzernerin ist sie seit bald 50 Jahren wohnhaft im Baselbiet.