Wir brauchen mehr Beziehung

Der erfahrene Suchtexperte Helmut Kuntz definiert Sucht als sichtbaren Ausdruck ungesunder, funktional wie emotional gestörter Beziehungen auf allen Ebenen. Daran krankt nicht nur der Einzelne, sondern unsere süchtig agierende Gesellschaft als Ganzes.

Gruppe von zirka 12 Menschen, von hinten fotografiert, die in der Abenddämmerung nebeneinander stehen und aufs Meer blicken
Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen mehr Gemeinschaft. (Bild: Tyler Nix on Unsplash)

Warum werden Menschen süchtig? Was treibt Menschen dazu, sich entgegen ihren natürlichen Instinkten in den Zustand der Abhängigkeit vorzuarbeiten? Die Raucherinnen und Raucher unter uns erinnern sich vielleicht daran, dass die erste Zigarette alles andere als ein Genuss war. Und trotzdem raucht man weiter. Der Suchtexperte Helmut Kuntz schreibt in seinem Buch «Drogen & Sucht. Alles, was Sie wissen müssen»:

«Wer als Kind oder Jugendlicher anfängt zu rauchen, muss willentlich die naturgegebenen Schutzmechanismen seines Körpers übergehen. Er muss den anfänglich als schlecht empfundenen Geschmack der Zigaretten bewusst ausblenden und die durch die Wirkungen des Nikotins hervorgerufenen Schwindelgefühle unter Kontrolle bringen. Um irgendwann im Brustton der Überzeugung sagen zu können: ‚Ich rauche gerne‘, muss ein Raucher sich erst geschmacklich umerziehen.»

Auch bezüglich Alkohol verfügen Kinder und Jugendliche zu Beginn noch über natürliche Schutz- und Abwehrreaktionen. Die wenigsten mögen den Geschmack von Bier, Wein oder härteren alkoholischen Getränken. Die Alkoholindustrie hat einen Weg gefunden, um diese Widerstände zu überwinden: Alkoholhaltige Mischgetränke schmecken süss und unterlaufen die natürlichen Schutzmechanismen. So werden junge Menschen an den Konsum von Alkohol gewöhnt. Auch die synthetischen Drogen, die findige Drogendesigner in Labors entwickeln, sind Produkte der Marktwirtschaft.

Es fällt uns schwer zu verstehen, warum Menschen Suchtstoffe zu sich nehmen, die sie in schwerste körperliche und seelische Abhängigkeit führen können. Warum sie, oft schon in jungen Jahren, ihre Zukunft aufs Spiel setzen - und nicht selten ihre Existenz. Warum viele von ihnen keinen Sinn im Leben sehen und keine Perspektive entwickeln. Dabei gäbe es heutzutage mehr Möglichkeiten denn je: Das Angebot an Bildung und Weiterbildung ist riesig. Warum «entscheiden» sich Menschen für den Weg in die Sucht?

An den Rauschmitteln selbst kann es nicht liegen: Sie existieren seit Jahrtausenden in grosser Vielfalt. Die Abhängigkeit von Rauschgiften ist aber ein relativ neues Phänomen. Früher war der Gebrauch von Rauschmitteln jenen vorbehalten, die sie zu beherrschen wussten: Medizinmänner und -frauen, Schamanen, Priester, Druiden und weise Frauen hatten das Monopol auf ihre gezielte Anwendung. Der kollektive Gebrauch «magischer Stoffe» war Teil sakraler Riten und sozial geregelt durch kulturelle Gebräuche.

Heute geschieht der Konsum von Rauschmitteln losgelöst von jeglicher Zeremonie. Die Motive für Drogenkonsum sind vielfältig: Lustgewinn, Realitätsflucht, Entlastung von Druck, Schmerzvermeidung, Langeweile, Orientierungslosigkeit, der Wunsch nach Zugehörigkeit … Immer mehr Menschen fühlen sich genötigt, ihr Leben mit dem Konsum von Rauschmitteln zu «bereichern».

Die Hauptverantwortung für den verbreiteten Suchtmittelkonsum sieht Helmut Kuntz weniger beim Einzelnen, sondern bei einer Gesellschaft, «die aufgrund ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten ihre Mitglieder geradezu zu suchtartigem Verhalten nötigt». Die moderne Konsum-, Leistungs- und Kommunikationsgesellschaft, so Kuntz, sei in ihrem innersten Kern ein kranker Organismus. Nach dem Diktat des Geldes würden Menschen auf ihren Nutzen für die Wirtschaft reduziert - und tatsächlich scheitern viele menschlich gut gedachte Reforminitiativen an der «Mauer des Geldes».

Sucht ist das masslos gesteigerte Verlangen nach «etwas», das wir vermissen. Der suchtartige Konsum von Rauschmitteln oder anderen, nicht stoffgebundenen Drogen wie Fernsehen, Essen oder Internet schafft Distanz zu den eigenen Gefühlen; zu dem, was in uns wohnt und was wir nicht benennen können.

«Es ist unsere auf grenzenlosen Konsum und dürftige Beziehungen getrimmte Lebensweise, welche zunehmend mehr von Natur aus offene, begabte, kreative  und glücksfähige Menschen zum Rückzug in die Welt der Drogen und Süchte zwingt», schreibt Helmut Kuntz weiter. Er zitiert einen 24-jährigen Klienten, der seine Sozialarbeiterin fragte: «Was ist eigentlich Liebe? Wie fühlt sich das an, dieses Gefühl Liebe? Wie macht man das, dass man geliebt wird? Darauf hätte ich gerne eine Antwort.»

Mehr dazu

- Drogen & Sucht. Alles, was Sie wissen müssen, von Helmut Kuntz