«Wir können uns Jesus in unserer Zeit gar nicht vorstellen»
Wie ich meinen Vater zum Kommunismus bekehren wollte – und mir nur ein paar Tage später die Rückkehr von Jesus Christus zur Erde wünschte. Und warum mich Nordirland mehr interessierte als Irland. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #44
Während ich das Joch der Schule noch ein paar letzte Monate aushalten musste, war ich den Fesseln des Elternhauses schon längst entschlüpft. Ich liebte meine Eltern, meinen jovialen, geselligen, aber durchsetzungsschwachen Vater auf seine Art ebenso wie meine kritische Mutter, die ihre Hausfrauenrolle und die Durchsetzungsschwäche meines Vaters verachtete. Ich liebte sie beide, aber sie hatten mir nichts mehr zu sagen, auch deshalb nicht, weil ich mir durch meine journalistische Arbeit mein Geld selber verdiente und ein Taschengeld gar nicht mehr brauchte. Deshalb liessen sie mir jede Freiheit und zeigten sich höchstens besorgt, dass ich meiner Aktivitäten wegen die Matura nicht schaffen könnte.
Auch meine immer mehr nach links tendierende Weltanschauung gefiel ihnen nicht. Doch während meine gutbürgerlich aufgewachsene Mutter alles Extreme ablehnte, hatte mein Vater immerhin Sympathien für die kommunistische Utopie. In einer «zuerst hitzigen, dann immer ruhigeren Diskussion» mit ihm gestand er mir zu, der Kommunismus leuchte ihm theoretisch ein. Doch die Praxis zeige, dass das Ziel nicht erreichbar sei.
In welchem Land, fragte er mich, sei denn der Kommunismus verwirklicht? Überall sehe er nur Diktaturen, so zitierte ich ihn im Tagebuch: «Ich versuche darauf meinem Vater beizubringen, dass das Ziel in den kommunistischen Staaten nach wie vor die klassenlose Gesellschaft sei. Doch in all diesen Staaten sei zurzeit erst die Stufe der Diktatur des Proletariats erreicht.»
Die «Diktatur des Proletariats» hatte bisher noch nicht zu meinem täglichen Vokabular gehört. Offenbar musste ich mir – und meinem Vater – beweisen, wie ernst ich es inzwischen schon meinte. Ich fuhr fort: «Kann man es einem Revolutionär in dieser Phase verübeln, dass er nach der lang erwarteten Machtübernahme seine neu gewonnene Macht zu sichern versucht durch autoritäre Massnahmen? Jetzt, da er endlich verwirklichen kann, was er immer forderte, soll sein ganzes Aufbauwerk zunichte gemacht werden, weil die reaktionären Elemente zu demokratisch und zu sorglos behandelt werden? Ein Revolutionär hat ein Recht auf Macht, wenn er diese Macht revolutionär verwenden will.»
Ich staune über meine eigenen Sätze. Meine Rechtfertigung für die Notwendigkeit der Diktatur zeigt mir auf erschreckende Weise, wie anfällig junge Menschen für totalitäre Ideen sind. Was mich am Kommunismus damals beeindruckte, war die Entschlossenheit, die Kompromisslosigkeit der Ideologie. Sie vermittelte mir eine Sicherheit, eine definitive Antwort auf meine Suche nach dem richtigen Weg.
Aber diese Suche hatte gerade erst angefangen. Ich suchte in alle möglichen Richtungen – und nur wenige Tage, nachdem ich meinem gutmütigen Vater eine Lektion in Sachen Kommunismus glaubte erteilen zu müssen, notierte ich im Tagebuch eine ganz andere Eingebung: «Ich möchte in ein paar Jahren einen Film über Jesus drehen. Jesus in unserer Zeit, Jesus in Zürich, Jesus in der «Bodega», Jesus mit uns in unserem Alltag als jugendlicher Revolutionär, der die Gabe hat, Leute für seine Ideen zu überzeugen – und ein Jesus vor allem, der menschlich ist: Stimmungen unterworfen, tolerant, intolerant, freundlich und radikal – jedenfalls ein aussergewöhnlicher Mensch, der Ideale hat und Extreme liebt und mir deshalb sympathisch ist.»
«Mit meinem Film», überlegte ich weiter, «möchte ich zeigen, dass Jesus unter uns existieren und in neuer Gestalt hervortreten kann. Aus dem historischen Jesus von Nazareth ist so sehr ein Klischee geworden, dass wir uns einen Jesus in unserer Zeit gar nicht vorstellen können.»
Ich hatte mit dem Christentum noch nicht ganz gebrochen. So wie ich mich ein paar Tage vorher in die Heilsbotschaft des Kommunismus verbissen hatte, so wünschte ich mir nun auf einmal eine Wiederkehr des Christus herbei. Ich kam auf diese Idee, ohne damals bereits zu wissen, dass die Wiedergeburt Christi in der Spiritualität als reale Verheissung gilt. Ich wünschte es mir, als könnte es wirklich geschehen. Und weil ich mir eine Rückkehr im geistigen Sinne nicht vorstellen konnte, malte ich mir seine Ankunft im Irdischen aus – mitten in Zürich.
Dieser Jesus war für mich als Heilsbringer nur akzeptabel, wenn er ganz physisch, ganz berührbar und widersprüchlich, wie Menschen sind, in Erscheinung trat. Er würde auch keine Wunder vollbringen und nicht übers Wasser gehen können. Er würde ein Mensch sein wie du und ich – und ich ertappe mich, dass ich im Grunde mich selbst beschrieb. Denn Ideale hatte auch ich, Extreme liebte auch ich, und wollte ich etwa kein «jugendlicher Revolutionär» sein? – In meinem Innersten wünschte ich mir offenbar, ich könnte die Welt gleich selber erlösen.
«Der Film soll zeigen» fuhr ich fort, «wie ein Jesus der Gegenwart auftreten würde, wer sich ihm anschliessen – und wer ihn am Ende verlassen würde. Die dargestellten Szenen werden uns alle herausfordern. Wir werden erkennen, ob wir einem Jesus in unserer Mitte gewachsen sind. Wahrscheinlich sind wir es nicht.»
Ganz entgegen meiner sonstigen Grundstimmung war ich nicht zuversichtlich. Ich glaubte nicht, dass die Menschheit für eine Rückkehr von Gottes Sohn schon bereit war, und ich glaube es auch heute noch nicht, ein halbes Jahrhundert später. Auch ein Christus von heute würde am Ende wieder gekreuzigt. Man würde ihn vielleicht leben lassen, aber nicht auf ihn hören und ihn verachten.
Mein Filmprojekt habe ich nie verwirklicht. Doch ich kann mich auch nicht erinnern, dass jemals ein anderer Film das Thema behandelt hätte. Jesus von Nazareth war in vielen Kinos zu Gast. Aber kein Filmemacher von Rang und Namen wagte sich je an die Wiederkunft Christi heran. Der Welt muss es offenbar noch viel schlechter gehen. Erst dann erinnert sie sich vielleicht an den, der sie retten kann. Dann braucht es keine Verfilmung mehr. Dann muss der Messias schon selber kommen.
*
Obwohl inzwischen nur noch wenige Tage bis zu den schriftlichen Prüfungen blieben, waren Elias und ich mit den Gedanken bereits in den Sommerferien. Nach dem gemeinsamen Schottland-Trip zwei Jahre davor zog es uns wieder zurück zu den keltischen Wurzeln Europas. Diesmal nach Irland, zur Grünen Insel mit ihrer rauen und wilden Schönheit, zum atlantischen Meer und zu den Menschen, die das Gälische immer noch in sich trugen und es in ihren Gesängen immer wieder aufs neue belebten. Doch während mein Schulkollege sich eher verlocken liess vom poetischen und versponnenen Irland, hatte ich die Geschichte der Insel entdeckt und mit ihr das Leiden des irischen Volkes. Denn Irland war noch immer geteilt: in den katholischen unabhängigen Süden und das britische Nordirland, wo die katholische Minderheit von der protestantischen Mehrheit unterdrückt und gedemütigt wurde.
Den Widerstandskampf, den die verbotene «Irish Republican Army» im Norden gegen die britischen Truppen führte, hatte mein Engagement und meine Anteilnahme geweckt. Ich las in der Zeitung alles, was ich über Nordirland finden konnte, und mein Entschluss war gefasst: Wenn wir nach Irland reisen, dann auch in den Norden.
Meine Eltern äusserten ihre Bedenken. Ob ich mir die Reise nach Irland tatsächlich leisten könne? Nach den Ferien standen die mündlichen Prüfungen an – aber auf Irland verzichten, das konnte ich nicht. Das wäre für mich wie aufs Leben verzichten gewesen. Ins Tagebuch schrieb ich am 18. Juni: «In den Ferien, wenn ich nach Irland reise, besuchen meine Eltern die USA. Doch mir scheint, die freuen sich gar nicht richtig. Meine Mutter hat Angst vor dem Fliegen, und meinem Vater wird die Planung der Reise jetzt schon zu viel. Sie scheuen sich vor der Unsicherheit, vor dem Risiko, vor all dem, was vielleicht schief gehen könnte. Dabei ist es doch so: Menschen, die zu gleichmässig, ohne Extreme leben, müssen ihr Dasein als sinnlos empfinden. Denn sie leben ja gar nicht! Sinnvoll erscheint das Leben nur jenen, die es auszukosten versuchen, die sich nicht fürchten vor Risiken und extremen Situationen. Für mich ist das Ausprobieren mein Sinn des Lebens. Was hält mein Leben aus? Wie weit kann ich gehen? Und ausprobieren bedeutet: Suchen, fragen, wagen, opponieren und zweifeln.»
Am 30. Juni notierte ich: «Noch zwei Tage bis zur schriftlichen Matura. Na und?»
Fortsetzung folgt am Sonntag 19. März
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
2023 erschien: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex Libris, Orell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch
Weitere Bücher von Nicolas Lindt
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Kommentare
Die Wiederkunft Christi gibt es schon als Fernsehserie
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