Wir sind nicht besser als die, die wir kritisieren

Die Mainstream-Medien verschonen die Regierungen mit Kritik, gerade dort, wo sie bitter nötig wäre. Aber: die alternativen Medien gehen mit der eigenen Szene ebenso pfleglich um.

(Illustration: pixabay.com)

«Diese Regeln (…) dürfen nie hinterfragt werden», sagte Lothar Wieler 2020 zu den Corona-Massnahmen. Das Diktum des ehemaligen Präsidenten des Robert Koch-Instituts widersprach allem, was uns die Aufklärung gelehrt hat.

Ein aufklärerischer Anti-Wieler-Gegenentwurf müsste wohl heissen: «Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst» (Albrecht Müller). Wer sich diese Geisteshaltung zu eigen macht, ist sicherlich auf einem guten Weg in Richtung mündiger Bürger. Und dagegen ist sicherlich nichts einzuwenden.

Doch auch beim Hinterfragen gibt es Grenzen. Selbstverständlich: Man muss sich ja nicht René Descartes zum Vorbild nehmen. Diesen Protagonisten des radikalen Zweifels, der als einzige Gewissheit festhielt: «Ich denke, also bin ich» (Cogito ergo sum). Zwischen dem radikalen Zweifel und dem Wahnsinn liegt ja bekanntlich nur ein schmaler Grat (siehe zum Beispiel Nietzsche).

Doch wieso schreibe ich das alles? Die kritische Haltung, möglichst alles zu hinterfragen, stösst gerade auch innerhalb der Szene der Demokratie- und Bürgerrechtsbewegungen regelmässig an ihre Grenzen. Das gilt besonders auch für die sogenannten Alternativ- oder Oppositionsmedien.

Wir zeigen gerne mit dem Finger auf Leute wie Karl Lauterbach, Alain Berset und Co. – was natürlich auch wichtig ist. Doch mit Kritik innerhalb der eigenen Reihen sind wir sparsam.

In gewisser Hinsicht sind die sogenannten Alternativ- oder Oppositionsmedien den Mainstream-Medien ganz ähnlich. Während Erstere den Stars aus der eigenen Szene ständig das Wort reden, rollen Letztere den Politikern der regierenden Parteien und ihren intellektuellen Bodyguards ständig den roten Teppich aus.

Die einen feiern die Wolfgang Wodargs, die Daniele Gansers, die Ken Jebsens und Reiner Fuellmichs, die anderen glorifizieren die Barack Obamas, die Wolodimir Selenskis, die Angela Merkels und Co. Kritik an den Protagonisten gilt in beiden Paralleluniversen als Tabu.

Auch hier stehen die alternativen Medien dem Mainstream in nichts nach. Gerne wird publizistisch gegen die üblichen Verdächtigen geschossen, während man Kritik in den eigenen Reihen stets meidet.

Dabei ist diese auch wichtig: Denn die Scharfmacher sind überall zu finden. Sie sind nicht nur innerhalb der Kaste der Polit-, Konzern- und Medien-Eliten anzutreffen, sondern auch in der ausserparlamentarischen Opposition – und leider auch in den Demokratie- und Bürgerrechtsbewegungen, wo einzelne Protagonisten sich immer wieder als wahre Hetzer entpuppen.

Rachefantasien und Revanchismus sind da leider keine Seltenheit. So verständlich der Groll gegenüber den Regierenden ist, die im Zuge der letzten Jahre viele von uns maximal diskriminiert haben, so kontraproduktiv ist er zugleich.

Den Regierenden dienten oppositionelle Scharfmacher schon immer als Vorwand, um gegen oppositionelle Bewegungen noch härter vorzugehen. Das wusste schon Otto von Bismarck nur zu gut.

Allein schon deshalb sollten oppositionelle Medien nicht nur die etablierten Brandstifter aus Politik und Medien ins Auge nehmen, sondern genauso auf die Demagogen und Einpeitscher in den eigenen Reihen achten.

Das Motto: «Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst» kennt keine ideologischen Scheuklappen. Und selbstverständlich gilt das auch für mich, liebe Leserinnen und Leser. Hinterfragen Sie alles, was ich hier schreibe.


Rafael Lutz ist Redaktor bei Transition News, in deren Newsletter der vorliegende Text am 5. Mai erschien.

11. Mai 2023
von:

Kommentare

Hinterfragen ist, nachdenken ist bess

von juerg.wyss
Mir ist beim Lesen dieses Artikels wieder einmal ein Detail aufgefallen, dass vielen auch einen Knopf öffnen wird. "Diese Regeln sind niemals zu hinterfragen" sagte Lothar Wieler. Aber was sind Regeln? Regeln sind Pseudogesetze, die keinen jurisitischen Hintergrund haben. Aber sie werden von vielen als Gesetze angenommen und auch so wahrgenommen. In der Regel sind Regeln nur ein erzwungener Standard, die von einer Person auf die Gemeinschaft übertragen werden. Denn an Regeln muss man sich nicht halten, man kann sich an sie halten um Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Aber weder in der Politik noch in der Gesetzgebung haben Regeln was verloren. Nebenbei Rafael ist Journalist, er arbeitet bei Transition News als Redaktor und als Reporter, also darf man ihn nicht nur als Redaktor hinstellen. Wieder so ein Wortwirrwarr, das die Tatsachen verdreht. Rafael hat recht, man muss alles hinterfragen.