Zeit: für Kinder, ohne Geräte, auch mal für Langeweile

Die grauen Herren sind weitgekommen. Uns Erwachsenen wurde die Zeit gestohlen, den Kindern der Lebensraum genommen. Lasst uns die Kindheit retten und schenken, was am kostbarsten ist: Zeit und Aufmerksamkeit!

Die Strasse, bis vor hundert Jahren der Begegnungs- und Spielort schlechthin, wurde den Kindern vom motorisierten Verkehr genommen. Die naheliegenden Freiräume für unbeaufsichtigtes Kinderspiel wurden verbaut. Foto: Robert Collins
Die Strasse, bis vor hundert Jahren der Begegnungs- und Spielort schlechthin, wurde den Kindern vom motorisierten Verkehr genommen. Die naheliegenden Freiräume für unbeaufsichtigtes Kinderspiel wurden verbaut. Foto: Robert Collins

Die Kindheit, in der sich alles entwickeln sollte für das ganze, darauffolgende Leben, ist bedroht. Die Bedingungen, die Kinder für ihr gutes Gedeihen bräuchten, fallen Stück für Stück weg – abgeholzt wie der Lebensraum bedrohter Tierarten.

Die Strasse, bis vor hundert Jahren der Begegnungs- und Spielort schlechthin, wurde den Kindern vom motorisierten Verkehr genommen. Die naheliegenden Freiräume für unbeaufsichtigtes Kinderspiel wurden verbaut. Im Wald ist es zu gefährlich, heisst es. Die Erwachsenen sind abwesend oder geben vor, was Kinder tun sollen.

Sie liessen niemandem mehr Zeit für sich. Jeder hatte nur noch Zeit für seine Arbeit, für die Pflicht, für das, was unbedingt erledigt werden musste.

So haben die Kinder heute volle Agenden, gefüllt mit Stundenplänen, Förderprogrammen und angeleiteten Aktivitäten. Für alles Wilde, Waghalsige und Laute gibt es Konsumangebote wie den Europapark, Trampolinhallen, Skateparks oder Indoor-Spielplätze. Dort sind die seltenen Abenteuer nicht gratis, vordefiniert im Rahmen von Hausordnung und Sicherheitskonzept, ergänzt mit Fast-Food, finden sie unter den Augen zahlreicher Erwachsenen statt.
So weichen die Kinder aus in die virtuelle Welt, wo sie sich in der Unendlichkeit der Möglichkeiten unbeaufsichtigter und freier fühlen. Sie können weder wissen noch bemerken, dass hier einfach andere, unsichtbare Erwachsene und die Maschine selber das Spiel, die Regeln und die Kontrolle über sie haben. Sie können sich dem Sog dieser Welten nicht selber entziehen und haben kein Bewusstsein dafür, was alles auf der Strecke bleibt wenn zu viel Entwicklungszeit, stillsitzend und erstarrt, verloren gegangen ist.
Wir lassen es zu, dass die Lebensräume der Kinder, die auch unsere wären, Stück für Stück verschwinden. Wir haben wegrationalisiert, was das Mensch-Sein eigentlich ausmacht. Unsere eigene Aufmerksamkeit gilt immer weitreichender den gefrässigen, nimmersatten Maschinen, denen wir ständig Daten füttern müssen. Wir belassen es auch nicht beim Füttern von Daten, wir lassen sie gleichzeitig unsere Zeit, unsere Präsenz und unsere Kinder verschlingen. Haben wir vergessen, was Leben ist?

Die grauen Herren waren die grössten Diebe, die es je gegeben hatte. Denn sie stahlen den Menschen nicht nur ihre Zeit, sondern auch ihr Leben.

Entwicklung braucht Raum – Lebensraum, Freiraum, Spielraum. Also räumlich und zeitlich unverplantes Leben. Mit uns Erwachsenen – nicht als Förderer oder Aufsichtspersonen. Sondern als aufmerksame, zugewandte Wegbereiter, Ideenspender und GeschichtenerzählerInnen.

Dem Alter entsprechendes, unbeaufsichtigtes Zusammensein pflegen.
Zusammenspiel und Schwierigkeiten meistern üben.
Zeit ohne Gerät.
Zeit für Langeweile.
Zeit zum Verdauen aller empfangener Reize, deren Sortierung und Vernetzung.
Zeit zum Abtauchen ins Nichts, damit sich daraus wieder etwas Neues entwickeln kann.
Zeit und Raum für kreatives Tun.
Zeit für Geblödel, Herumtollen und Schabernack treiben.
Zeit für das innere Wachstum.

Lasst uns die Kindheit und damit auch unser eigenes Leben retten! Schaltet wann immer möglich alle Geräte ab und befreit euch von den Zwängen, die sie ausüben. Wendet euch den Kindern und euch selbst zu und geniesst alle Zeiträume, die ihr euch so zurückerobert.

Ich weiss, ich wiederhole mich. Immer wieder, etwas anders formuliert, die gleiche Botschaft. Weil sie mir am Herzen liegt. Weil die Not wächst. Weil ich auf ein wachsendes Bewusstsein für alles Wesentliche hoffe und die Förderung der Wahrnehmung der Kinder als meine Lebensaufgabe ansehe.

Man konnte die grauen Herren nie aufhalten, indem man gegen sie kämpfte. Man konnte nur die Zeit zurückgewinnen, indem man sie mit dem Herzen lebte.
(Zitate 1-3 aus dem Buch: Momo, von Michael Ende, 1973)




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24. Dezember 2024
von:

Über

Christian Wirz

Submitted by cld on Mi, 07/05/2023 - 13:59

Christian Wirz, *1967, verheiratet, Vater von 2 Söhnen. Beruflich bisher in verschiedenen pädagogischen Bereichen tätig: Als Primarlehrer, Jugendarbeiter, Fachperson und Mediator zu Jugendgewalt und Rassismus. Aktuell Hausmann und Vater, Geschäftsleiter des Vereins «MenschenBildung – Kindern begegnen» und freier pädagogischer Berater.

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