Zwei historische Weltereignisse an einem Wochenende – oder politisches Theater?
Eins kann man nicht verleugnen: Das weltpolitische Geschehen mit seinen zahlreichen Hakenschlägen ist derzeit alles andere als langweilig. Werden wir einmal den Moment erleben, wo die Akteure sich verbeugen und auf den Applaus warten – zum Beispiel im Oval Office oder in der Türkei?
Foto: Andrej Lisakov
Ist es tatsächlich ein extremer Sinneswandel? Ein Gefühlsausbruch? Oder eine Inszenierung? Foto: Andrej Lisakov
0:00 0:00

Die Kommentatorin der ARD fand eine klassische Formulierung für die Haltung der westeuropäischen Politiker nach dem «Eklat im Oval Office». Man stünde «auf der richtigen Seite der Geschichte», als man der Ukraine eilig versicherte: «Ihr seid nicht allein». Wenn schon sonst niemand, soll eine zukünftige Generation das Lob dafür aussprechen, dass man ein Land in einer aussichtslosen Situation endlos aufrüstet und mit der sinnlosen Fortführung des Krieges eine ganze Generation opfert – es sollen ja mittlerweile 2000 Soldaten sein, die jeden Tag im Ukraine-Krieg sterben.

Im Wesentlichen schuf US-Präsident Trump im Oval Office eine öffentliche Situation, um Selenski etwas zu sagen, das dieser wahrscheinlich von Verbündeten so unverblümt noch nicht gehört hat. Und auch wenn westliche Medien es hartnäckig Russenpropaganda nennen, dürfte ziemlich sicher der grösste Teil der Weltbevölkerung dieser Wahrnehmung zustimmen: «Sie setzen das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel. Sie riskieren einen dritten Weltkrieg.»

War dieser Streit nun gut oder schlecht für ein möglichst schnelles Ende des Krieges und des Sterbens? Die Ukraine reagiert so, wie jede Gruppe im ersten Reflex reagiert, die sich gedemütigt oder bedroht fühlt: Man schart sich um die Führer zusammen. Während Selenski zuletzt den Rückhalt der Bevölkerung für seinen Kriegskurs verlor und sich eine Mehrheit für Verhandlungen aussprach, steht jetzt sogar die Opposition hinter ihm. Er ist der tragische Held eines gedemütigten Landes. Doch wie lange wirkt dieser Effekt – wenn der Krieg so weitergeht und immer mehr verloren wird?

Wahrheit wirkt – und ich glaube, zuerst die ukrainische Bevölkerung, aber schliesslich auch der schrumpfende Wertewesten werden sich ihr auf Dauer nicht widersetzen können: Es dient nicht dem Frieden, immer weitere Waffen zu liefern.

Eine ganz andere Situation: Türkei! Sollte der über 40jährige Kurdenkonflikt, dem 45 000 Menschen zum Opfer fielen, auf einmal zu Ende sein? Staatsfeind Nr. 1, Abdullah Öcalan, Gründer der Kurdenpartei PKK und seit 25 Jahren in Einzelhaft, rief zum Niederlegen der Waffen und zur Auflösung der PKK auf. Das eigentlich Überraschende daran war aber, dass Präsident Erdogan und Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen Partei MHP, auf ihn zugingen und ihn darum gebeten hatten.

Öcalans Wandel zur Gewaltfreiheit ist nämlich alles andere als neu: Schon nach wenigen Jahren Haft, nach der Lektüre von Büchern des Anarchisten Bakunin, änderte er grundlegend seine Vorstellung davon, wie ein gesellschaftlicher Wandel stattfinden könnte. Statt bewaffneter Revolution schlug er der kurdischen Bewegung demokratische Selbstorganisation, Respekt verschiedener kultureller Identitäten, Einsatz für die Stellung der Frauen und ökologische Verantwortung vor. Die Autonomiezone Rojava beruht im wesentlichen auf diesen Ideen.

Jetzt schrieb er in einem öffentlichen Aufruf an seine kurdischen Mitstreiter: «Beruft euren Kongress ein und fasst einen Beschluss zur Integration in den Staat und die Gesellschaft, wie es jede moderne Gesellschaft und Partei, die nicht zur Auflösung gezwungen wurde, freiwillig tun würde; alle Gruppen müssen ihre Waffen niederlegen und die PKK muss sich auflösen. Ich grüsse alle, die an das Zusammenleben glauben und meinen Aufruf beherzigen.» Die PKK signalisierte nun, seinem Aufruf zur Niederlegung der Waffen zu folgen.

Woher aber kommt Erdogans Handreichung? Ist es tatsächlich ein extremer Sinneswandel? Oder vielmehr politisches Kalkül? Denn eines ist klar: Wenn die Kurdenfrage gelöst wäre, könnte sich die Türkei auf etwas konzentrieren, das seit dem Fall Assads ganz oben auf der Tagesordnung steht: Die Neuaufteilung Syriens – und des ganzen Nahen Ostens. Israel scheint aus dem Gaza- und Libanon-Krieg erstarkt hervorzugehen. Die grossen Player der Region scheinen ihre Schachfiguren in Stellung zu bringen.

Wie wenig ernst es Erdogan mit dem Frieden ist, kann man in Nordsyrien sehen: Rojava wird nach wie vor von der Türkei bombardiert. «Trotz der erklärten Waffenruhe vermitteln die unaufhörlichen Bombardierungen und Aufklärungsflüge türkischer Drohnen in Guerilla-Gebieten ein Bild, das von Aufrichtigkeit weit entfernt ist», schreibt das Rojava Press Office heute. «Zurzeit bombardieren die türkische Armee und ihre Banden die Dörfer Tîna, Bîr Hiso und Sina im Süden von Kobanê mit schweren Waffen.»

Doch Öcalan ist sicher nicht naiv, er kennt die Beweggründe Erdogans auch. Dennoch hat er sich so entschieden. Vielleicht liegt darin die grösste Hoffnung und Weisheit: Dass wir – egal was unsere Feinde uns für Fallen stellen, auf unseren Weg vertrauen und ihn mit ganzer Kraft gehen.

Es bleibt spannend.

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
terra-nova-podcast-1.podigee.io.  
Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

Newsletter bestellen