Alles Gute zum Geburtstag, Findelkind!

Wer an einem Geburtstag eine Rede hält, überrascht mit einer Anekdote, wartet mit einem Lob auf die Jubilarin, den Jubilar auf und gibt einen guten Rat mit auf den weiteren Lebensweg. Eine Kolumne mit Blick auf unseren Nationalfeiertag.

© zvg

Am 1. August ist es wieder so weit. Die Schweiz hat Geburtstag.

Die Anekdote

Die Schweiz hat ihre Existenz in den noch heute gültigen Grenzen auch einem Diktator zu verdanken. Nach Napoleons Waterloo trafen sich die Siegermächte 1815 am Wienerkongress, um Europa neu zu ordnen. Man war fest entschlossen, die Schweiz unter den Nachbarländern aufzuteilen oder dem deutschen Bund einzugliedern. Zar Alexander I. Pawlowitsch Romanow, Herrscher über das grösste Land der Welt, war dagegen. Er wollte, dass das politische Findelkind ohne Verwandte in ganz Europa am Leben, frei und unabhängig bleibt. Zwei Jahre später ordnete er sogar Hilfslieferungen in die Schweiz an, weil ein Vulkanausbruch in Indonesien grosse globale Klimaveränderungen nach sich zog, die auch im damaligen Armenhaus Europas eine schlimme Hungerkatastrophe verursachte.

Wieso aber wollte Alexander in der Schweiz zulassen, was in Frankreich gescheitert war und was er in seinem eigenen Land später erbittert bekämpfte? Der junge Alexander hatte einen Lehrer aus dem Waadtland, der später Anführer einer Schweizer Revolutionspartei wurde. Ein Radikaldemokrat, wie die Freisinnigen früher hiessen. Frédéric-César de La Harpe begeisterte Alexander für die sich langsam verbreitende Idee der Demokratie. De La Harpe wurde später Mitglied des 5-köpfigen Direktoriums, dem späteren Bundesrat. Im Genfersee ist eine kleine Insel nach ihm benannt. Auf dem Denkmal steht das bekannte Zitat seines berühmten Schülers: Alles, was ich bin, verdanke ich einem Schweizer.

Das Lob

Der Salzburger Leopold Kohr war Staatswissenschaftler und Träger des Alternativen Nobelpreises. Er verstarb 1994. Kaum jemand kennt ihn, wohl aber seinen berühmten Slogan: Small is beautiful. Für Kohr war die Schweiz das gelungenste Staatswesen, das die Menschheit bisher zustande brachte; auch wegen seiner geringen Grösse. Kohrs bekanntestes Buch «Das Ende der Grossen – Zurück zum menschlichen Mass» behandelt das Thema, das Kohr während seines Lebens am meisten beschäftigte. Das Hauptproblem unserer Zeit sei nicht national oder ideologisch, sondern dimensional. Wie für Paracelsus, den Begründer der modernen Medizin, ist für Kohr in allen Bereichen das richtige Mass die alles entscheidende Frage. Was immer die vernünftige Menge überschreitet, macht ein Medikament zum Gift, das Wachstum zum Krebs, Demokraten zu Tyrannen und friedliche Länder zu aggressiven Grossmächten.

Kohr schwebte ein Europa der historisch gewachsenen Regionen vor, organisiert wie die Schweiz; subsidiär und föderalistisch. Das Mass aller Dinge sei der Mensch, nicht die Menschheit, die Gesellschaft oder der Staat, davon war Kohr überzeugt. Und weil der Mensch klein ist, müssen auch seine Institutionen klein sein, damit sie ihn nicht zerdrücken. Darum seien grosse Territorien und die Demokratie unvereinbar und können nur durch totalitäre Organisation am Leben erhalten werden, bis sie früher oder später doch zerfallen. Nur Dikaturen erfreuen sich am Uniformen, mehr als an der Harmonie, die durch ausgleichende Vielfalt erzeugt wird.

Der Rat

Der Rat ist in einem Zitat des eidgenössischen Schriftstellers Gottfried Keller zu finden, einem bewussten Beobachter der spannenden Ereignisse um die Gründungsjahre der modernen Schweiz von 1848. Es stammt aus seinem Stück «Fähnlein der Sieben Aufrechten». Dort mahnt er durch die Figur des Schneidermeisters im Ton einer Prophezeiung: «Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie auch anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erspart worden zu sein; dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch!»

 

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Thomas Brändle lebt im zugerischen Ägerital, ist Familienvater, Bäcker-Konditor-Confiseur, gewerblicher Kleinunternehmer, www.cafe-braendle.ch, Autor (Mitglied ISSV, AdS, PEN), alt Kantonsrat, Mitinitiant der www.vollgeld-initiative.ch. In seinem Romanerstling «Das Geheimnis von Montreux» thematisierte er Kellers Prophezeiung durch den Protagonisten Marco Keller, Nationalrat und Nachfahre des Schriftstellers Gottfried Keller.
Die Bücher von Thomas Brändle.

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Thomas Brändle

Submitted by admin2 on Do, 08/18/2022 - 14:51

Thomas Brändle lebt im zugerischen Ägerital, ist Familienvater, Bäcker-Konditor-Confiseur, gewerblicher Kleinunternehmer, www.cafe-braendle.ch, Autor (Mitglied ISSV, AdS, PEN), alt Kantonsrat, Mitinitiant der www.vollgeld-initiative.ch. In seinem Romanerstling «Das Geheimnis von Montreux» thematisierte er Kellers Prophezeiung durch den Protagonisten Marco Keller, Nationalrat und Nachfahre des Schriftstellers Gottfried Keller.

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