Aufschwung der Naturheilkunde: 150 Millionen Europäer vertrauen auf Komplementärmedizin

Die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Therapien ist so gross, dass sogar führende Ärzte die Zusammenarbeit mit Vertretern der Naturmedizin suchen. Nur ein Zehntel der Allgemeinmediziner bietet alternative Therapien an, und die Verbreitung in den EU-Ländern ist sehr unterschiedlich.


Komplementäre und alternative Richtungen in der Medizin haben es in Europa nicht gerade leicht: In den skandinavischen Ländern und Grossbritannien finden Akupunktur, Homöopathie und Naturheilverfahren kaum Eingang in die konventionelle Medizin. In Belgien, Österreich, Frankreich, Italien, Ungarn, die Ukraine und Slowenien hingegen erlebt die sanfte Medizin gerade einen Aufschwung. Auf dem ersten «Europäischen Dialogforum für Pluralismus in der Medizin» in Brüssel versuchten vergangene Woche 120 Schul- und Komplementärmediziner aus 15 Ländern eine Annäherung: «Die komplementäre und alternative Medizin muss zum Eckpfeiler der öffentlichen Gesundheitssysteme in der EU werden», sagt etwa Professor Stefan Willich von der Berliner Charité. Gemeinsam mit dem Präsidenten der deutschen Bundesärztekammer, Professor Jörg-Dietrich Hoppe, legte er im Jahre 2000 den Grundstein für das Dialogforum in Deutschland. Nun beginnt auch der europäische Dialog. Mehr als 150 Millionen Patienten in Europa schwören auf Therapien wie Akupunktur, Homöopathie und Chiropraktik, zeigen jüngste Erhebungen des Berliner Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitswirtschaft.


Für Claudia Witt vom Berliner Institut sprechen Vertrauen und Hoffnungen der Patienten jenseits des akademischen Streits für diese alternativen Therapieformen. So habe sich in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der praktizierenden und in Komplementärmedizin ausgebildeten Ärzte in Deutschland verdoppelt. Nur etwa ein Zehntel der rund 300 000 praktizierenden Allgemeinärzte bietet sie allerdings auch an. Seit 2006 werden komplementärmedizinische Therapien zur Behandlung von Arthritis, chronischen Kopfschmerzen, Lendenwirbelbeschwerden, Hüftgelenkserkrankungen sowie als Ergänzung zur Chemotherapie von Krebspatienten von den Krankenkassen bezahlt. Entsprechend entwickeln sich solche Therapien in der EU zur Wachstumsbranche. In Grossbritannien entfallen jährlich rund zwei Milliarden Euro auf alternative Therapien, wovon die Patienten 750 Millionen aus eigener Tasche zahlen. In Deutschland werden komplementärmedizinische Therapien für zwei Milliarden Euro von den Kassen und für fünf Milliarden von den Patienten bezahlt.


Die Lombardei und die Toskana in Italien gehören inzwischen zu den europäischen Modellregionen, in denen die Komplementärmedizin und konventionelle Medizin gleichgestellt sind. Auch in Belgien und der Schweiz, in Mittel- und Osteuropa erlebt die Naturmedizin einen Aufschwung. Grund genug für Hoppe, das Kriegsbeil zwischen den sich kritisch beäugenden Disziplinen zu begraben. Die universitäre Ausbildung allein könne die Befähigung zur Ausübung der umfassenden Heilkunde am Menschen nicht mehr vermitteln», sagt Hoppe und plädiert für mehr Kooperation zwischen Komplementär- und Schulmedizin: «Wir benötigen mehr Teamwork.» Hoppe räumt mit einem weiteren Vorurteil auf: «Medizin ist keine reine Naturwissenschaft, was seit Mitte des 19. Jahrhunderts behaupten wird.» Die Medizin sei vielmehr ein Hybrid. Viele Krankheitsverläufe seien mit purer Naturwissenschaft nicht erklärbar. Umso wichtiger sei es, alle seriösen Therapieformen der alternativen und Komplementärmedizin zum Nutzen der Patienten einzusetzen. Die Komplementärmedizin kämpft mit dem Vorurteil, dass sie wissenschaftlichen Prüfungen oft nicht standhält. Viele Patienten spüren jedoch eine Besserung, wenn in der Therapie Schul- und Heilmedizin kombiniert werden. Das zweite «Europäische Dialogforum für Integrative Medizin» soll mit den Vereinten Nationen im kommenden Jahr in Berlin stattfinden.
Quelle: Welt Online, 23. Oktober 2007
23. Oktober 2007
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