Das Lächeln des Doktor Li
Akupunktur wird mir empfohlen. Doktor Li sei Experte auf diesem Gebiet. Ich vertraue mich ihm an. Die Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten».
Eine Akupunkturbehandlung hat bestimmt ihre Wirkung. Ich würde niemandem davon abraten. Alternativen Heilmethoden stehe ich durchaus positiv gegenüber, und ich war zuversichtlich an jenem Morgen, als ich zu Doktor Li ging. Ich war überzeugt, er würde mir helfen können.
Als ich die Praxis des Doktors betrat, klang das Plätschern eines chinesischen Wasserspiels an mein Ohr und stimmte mich wohltuend ein auf die Heilung sowohl des Körpers als auch der Seele. Es war eine ruhige, ganzheitliche Stimmung, die mich in das Wartezimmer begleitete. Ich setzte mich in einen der schlichten chinesischen Korbstühle, sah das Wasser des Wasserspiels einer Quelle gleich über Moose und Steine rinnen und fühlte mich gut.
Da erschien auch bereits, im weissen Kittel, der Doktor. Er war zweifellos eine Persönlichkeit, eine Kapazität auf seinem Gebiet, und er war ein echter Chinese. Was mir allerdings sofort auffiel: Er lächelte nicht. Mit undurchsichtiger Miene begrüsste er mich und bat mich, mit ihm zu kommen. Auch seiner Arztgehilfin, die die Angaben zu meiner Person aufnahm, schenkte er nicht den Hauch eines Lächelns.
Als er mich einen Augenblick warten hiess, erkundigte ich mich bei der jungen Dame mit leiser Stimme: «Lächelt er nie?»
«Nur ganz selten», meinte die Assistentin, auch sie vermutlich eine Chinesin. Sie lächelte dafür um so mehr, was mich beruhigte.
Der Doktor kehrte zurück und geleitete mich in ein helles, klinisches Sprechzimmer. Er bedeutete mir, mich zu setzen, fragte mich in korrektem Deutsch nach dem Grund meines Kommens, schrieb das eine und andere auf und gab ein paar erste Erklärungen ab.
Ich aber, während er sprach, war dauernd damit beschäftigt, mich zu fragen, wie ich dem Doktor ein Lächeln entlocken könnte. Ich lächelte, lachte und verzog amüsiert das Gesicht, ich gab mich humorvoll, locker und aufgekratzt, obwohl ich von Schmerzen und Unwohlsein sprach – es nützte nichts.
Doktor Li blieb kühl und undurchschaubar.
Nachdem ich mich freigemacht hatte, musste ich mich auf ein Bett legen – worauf der Doktor wortlos ein erstes kleines Nädelchen in die Hand nahm und es mir in die Haut piekste. Weitere Nädelchen folgten, zwei an den Füssen, zwei an den Knien, zwei an den Händen, am Oberkörper und eins auf dem Bauch. Ich sah aus wie eine soeben vermessene Landschaft – überall steckten Vermessungspunkte. Ob es mir Schmerzen bereite, fragte der Doktor nicht. Er sagte nur kurz und knapp:
«Es sollte nicht weh tun.»
Damit war – aus seiner Sicht – alles gesagt. Eine halbe Stunde, erklärte er, müssten die Nadeln nun wirken können. Mit der Aufforderung, mich zu entspannen, verliess er den Raum.
Die Tür ging zu, und es wurde still. Ich lag da und entspannte mich. Ich versuchte es jedenfalls. Die Vermessungspunkte kitzelten mich. Vor allem die Nadel, die auf der Bauchdecke steckte, kitzelte. Es war ein unangenehmes Kitzeln. Es war ein sirrendes kleines Stechen an der Grenze zum Schmerz. Und je länger ich an das Nädelchen dachte, um so mehr tat es weh. Es war plötzlich kaum noch zum Aushalten.
Ich versuchte, mich abzulenken. Ich dachte an meine Arbeit, an meine Zukunft, an Besorgungen, die ich noch machen musste. Ich sah die Wolken vor dem Fenster vorbeiziehen, ich verfolgte den Weg der Fliege, die über die Wand spazierte, ich blickte zur Decke empor und fragte mich, warum Zimmerdecken immer so langweilig waren: Es nützte nichts. Nur die Nadel wollte beachtet werden.
Beschwörend redete ich mir ein, dass es den Schmerz in Wirklichkeit gar nicht gab. Es gab ihn nur, weil ich Angst vor ihm hatte. Auch dies half mir nichts. Die Nadel folterte mich unabhängig von meinem Willen.
Ich unternahm einen neuen Versuch, den Schmerz zu verdrängen. Ich dachte an Doktor Li. Ich überlegte mir, wie ich es schaffen könnte, doch noch ein Lächeln aus ihm zu locken. Ich könnte ihm eine Grimasse schneiden. Ich könnte ihn zu erschrecken versuchen und dann sagen, es war nur Spass!
Oder ich könnte ihn, überlegte ich mir, auf das Wasserspiel am Eingang der Praxis aufmerksam machen. Ich könnte ihn fragen, ob er sich schon einmal vorgestellt habe, wie es wäre, wenn das Wasser plötzlich nicht mehr aufhören würde, zu fliessen, und der Pegelstand in der Praxis immer mehr steigen würde. Aber ich verwarf den Gedanken wieder. Doktor Li verstand keinen Humor, und er würde mich für ein wenig verrückt halten.
Das hätte ich sogar noch verstehen können. Die extreme Situation, in der ich gefangen war, begann tatsächlich, meinen Geist zu verwirren. Ich lag auf der Pritsche wie ein hilflos auf dem Rücken liegender Käfer, und ich fühlte mich diesem Arzt, der nicht lächelte, ausgeliefert. Der Schmerz überfiel mich erneut. Ich konnte an nichts mehr anderes denken als an die Nadel in meinem Bauch. Immer grösser, immer überdimensionaler wurde die Nadel, die der chinesische Doktor nicht deshalb in meinen Bauch gesteckt hatte, um mich zu heilen, sondern um mich zu quälen. Der Akupunkteur, wurde mir klar, war ein Sadist.
In diesem Moment ging die Tür auf. Mein Peiniger streckte überraschend den Kopf herein und fragte: «Alles in Ordnung?»
«Alles in Ordnung», erwiderte ich.
Das sagte ich, in der Tat. Noch bevor ich den Irrsinn meiner Antwort erkannte, war der Doktor wieder verschwunden. Rasender Schmerz überwältigte mich, und ich fiel in tiefe Umnachtung.
*
Als ich erwachte, merkte ich, dass ich noch lebte. Und ich konnte mich an alles erinnern. Ich lag im Behandlungsraum eines Arztes, und ich hatte eine Akupunkturbehandlung begonnen. Der Schmerz war weg, zu meinem Erstaunen, das Folterwerkzeug verschwunden. Jemand beugte sich über mich. Ich blickte in ein mildes, gütiges Lächeln.
Das Lächeln des Doktor Li.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
2023 erschien: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex Libris, Orell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch
Weitere Bücher von Nicolas Lindt
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