Das Mädchen mit den Streichhölzern
Das Weihnachtsmärchen aus meiner Kindheit, das mir als erstes einfällt, ist ein Märchen von Hans Christian Andersen. Ich liebte es – und liebte es doch nicht. Eine Weihnachtsgeschichte aus dem Podcast «Mitten im Leben».
«Das Mädchen mit den Streichhölzern» (auch bekannt unter «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» ist ein berühmtes Märchen. Es handelt von einem armen Kind, das am Heiligen Abend allein durch die Strassen der Stadt zieht und Streichholzschachteln verkauft. Es trägt sie in einer Schürze und bietet sie den Passanten an. Doch die Menschen flüchten sich in die Häuser, denn die Kälte draussen ist schneidend. Niemand kauft Streichhölzer. Die Kleine friert, ihr Kleid ist zu dünn, die Pantoffeln der Mutter hat sie verloren und ihr Kopf ist unbedeckt. Die Schneeflocken fallen zart in das lange gelockte Haar, doch niemand sieht die Anmut des Mädchens.
In einer etwas windgeschützten Ecke setzt es sich hin und zündet ein Streichholz an. Dann ein zweites, ein drittes. Jedesmal, wenn die kleine Flamme flackert, vergisst die Streichholzverkäuferin, wie kalt der Wind ist und wie undurchdringlich die Mauern der Häuser sind, in denen jene, die glücklich sein könnten, Weihnachten feiern. Im Licht jedes Flämmchens leuchtet ein Bild auf – ein warmer Ofen, eine gebratene Weihnachtsgans, ein strahlender Christbaum. Das Mädchen, so glaubt es, muss nicht mehr draussenbleiben und frieren. Die glücklichen Menschen holen es in die Stube und schenken ihm Wärme und Liebe
Am Morgen danach wird es tot, erfroren gefunden. Das machte mich als Kind traurig, und nicht nur das. Ich war enttäuscht – denn ich hatte gelernt, dass Märchen für die guten Menschen immer gut enden, und ich wünschte es mir für ein Weihnachtsmärchen besonders. Warum musste das Mädchen mit den Streichhölzern sterben?
Heute weiss ich die Antwort. Hans Christian Andersen hat seine Märchen, im Unterschied zu den Gebrüdern Grimm nicht gesammelt, sondern gedichtet. Er hat die Geschichten erfunden, und wer etwas erfindet, kommt auch selbst darin vor.
Andersen hatte ein schwieriges Leben. Der dänische Dichter neigte zu Depressionen, er litt unter Angstzuständen und er hatte kein Glück in der Liebe. Er fühlte sich wohl so allein und im Stich gelassen wie seine Streichholzverkäuferin. Deshalb musste die Kleine sterben. In einem richtigen Märchen wäre sie nicht erfroren. Dann wäre doch eine Weihnachtsgeschichte daraus geworden.
Vom Autor soeben erschienen:«Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli
Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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