Das Stolpern über den Tigerkopf

Jedes Jahr an Silvester wiederholt sich das Ritual. «Dinner for one» wird gesendet, auf allen Stationen. Auch ich habe jahrelang mitgelacht. Die Neujahrskolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».

«Der Tigerkopf am Boden wird immer gefährlicher» (Bild ndr.de)
«Der Tigerkopf am Boden wird immer gefährlicher» (Bild ndr.de)

Am Silvesterabend stolpert er wieder. 

Und er wird sich jedesmal voller Verwunderung umdrehen, um zu begreifen, warum er gestolpert ist. Jedes Mal wieder vergisst der Butler das Tigerfell, das am Boden liegt. Er holt für Miss Sophie den Sherry und strauchelt über den Tigerkopf. Dann kehrt er an die Tafel zurück, um den vier Herren, die bei der Dame zu Gast sind, einzuschenken. Die Herren sind tot, ihre Stühle leer, doch die Lady hält daran fest, ihren Geburtstag jedes Jahr wieder im Kreis ihrer Freunde zu feiern. Auch wenn sie alleine am Tisch sitzt.

James ist ein gehorsamer Diener. Der seltsame Wunsch der gnädigen Dame ist ihm Befehl. Nachdem er den Gästen eingeschenkt hat, fragt er die Miss, ob sie «the same procedure as last year» wünsche, was die Dame bejaht. Darauf begibt sich der Butler von Glas zu Glas, erhebt es und trinkt – im Namen des Gastes – auf das Wohl der Gastgeberin. Zu jedem Gang, den er aufträgt, füllt er die Gläser erneut und trinkt sie allesamt leer. Er prostet Miss Sophie jedes Mal zu, und jedes Mal wird ihm die Zunge schwerer. Das «Cheers», das er stellvertretend für jeden Gast spricht, kommt nur noch lallend aus seinem Mund, und der Tigerkopf am Boden wird immer gefährlicher. 

Doch was ein echter Butler ist, hält die Balance. James wankt, doch er stürzt nicht, er stolpert, aber er fällt nicht. Das alte Jahr endet ohne Sturz. Unfallfrei.

Früher wusste ich nicht, was «Dinner for one» ist. Ich stellte nur mit Verwunderung fest, dass immer am 31.12. vor Mitternacht auf allen Kanälen ein viertelstündiger Sketch gezeigt wird, der offenbar sehr beliebt ist. Jedes Jahr an Silvester. Wie kommt es dazu, fragte ich mich, dass eine Zeit, die nur noch davoneilt und das Stehenbleiben verlernt hat, immer denselben Film sehen will?

Heute weiss ich die Antwort. Der Film sagt es selbst. Er zeigt «the same procedure as last year», und genau das wünschen wir uns offenbar. Dass wir am Ende des Jahres, auch wenn es ein verrücktes Jahr war, einmal mehr beruhigt feststellen können: Wir leben noch. Alles beim Alten. Solange an jedem 31.12. immer noch Dinner for one gezeigt wird, müssen wir nicht verzagen.

Jahr für Jahr habe auch ich das Ritual mitgemacht. Und obwohl ich inzwischen jedes Stolpern über den Tigerkopf auswendig weiss, habe ich stets mit Vergnügen verfolgt, wie sich James ein weiteres Mal dem Tigerfell nähert.

Jedes Mal habe ich auch ich gelacht. Aber jedes Mal etwas weniger. Und an Silvester im letzten Jahr wollte ich Dinner for one zum ersten Mal nicht mehr sehen. Ich möchte nicht lachen, nur weil ich jedes Jahr lachen musste. Ich möchte nicht schon im voraus wissen, was kommt.
James soll die Balance nicht halten können. Diesmal nicht. Der betrunkene Butler soll stürzen. Er soll der Länge nach auf den Boden knallen, Miss Sophie soll sich an ihrem Sherry verschlucken, und der unverwüstliche Sketch soll das Jahr nicht überdauern.

Das neue steht vor der Tür. In seiner ganzen prickelnden Ungewissheit. 


«Dinner for one» im englischen Original.

31. Dezember 2024
von:

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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Cover
Vom Autor soeben erschienen:
«Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli

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