«Das Thema Trauma gewinnt immer mehr an Bedeutung»

Vom 15. bis 18. August 2019 findet in Weggis das 13. Schweizer Bildungsfestival statt. Trauma und Meditation sind die Themen der diesjährigen Ausgabe. Initiator Urs Honauer erzählt im Interview, wen das Festival anspricht - und warum Meditation nicht für alle das Richtige ist.

55-jähriger Mann mit rotem Hemd und kurzen Haaren blickt lächelnd in die Kamera, im Hintergrund See und Berge
Urs Honauer ist der Initiant des Bildungsfestivals. (Bild: zvg)

Das 13. Schweizer Bildungsfestival im idyllischen Seminarhotel Rigi in Weggis widmet sich zwei Themen, die in unserer Zeit Hochkonjunktur haben, aber nur selten miteinander in Verbindung gebracht werden. Trauma und akkumulierter Stress sind der Boden für viele Krankheiten und Syndrome. Wer Stress hat, dem wird häufig Meditation empfohlen, damit der unruhige Geist zur Ruhe kommt. Was aber passiert wirklich, wenn traumatisierte und gestresste Menschen meditieren? Welches Potenzial hat die Traumatherapie - und was ist das Besondere am Bildungsfestival?

Dr. phil. Urs Honauer ist Leiter des Zentrums für Innere Ökologie und des Polarity Bildungszentrums in Zürich. Seit vielen Jahren ist er in der Erwachsenenbildung tätig und unterrichtet unter anderem Somatic Experiencing nach Dr. Peter A. Levine und Polarity. Er leitet zudem Trainings für Authentische Kommunikation. Und er ist der Initiant des Bildungsfestivals. Wir trafen ihn zum Interview.

«Menschen mit allen möglichen Beschwerden wird zur Meditation geraten, und vielen tut das gut, aber eben nicht allen.»

Urs Honauer, warum dieser Mix der Themen Trauma und Meditation?
Es gibt enorm viel Trauma in der Gesellschaft, heute mehr als früher, aus verschiedenen Gründen. Unter anderem leben bei uns viele traumatisierte Menschen mit Migrationshintergrund, die aus Konfliktregionen geflohen sind. Dann gibt es mehr Coming-outs als früher, so dass jetzt Dinge auf den Tisch kommen, die früher unter den Teppich gekehrt wurden. Und es gibt die Sozialen Medien, die nicht kontrolliert werden können, und über die solche Themen öffentlich werden. Das Thema Trauma gewinnt immer mehr an Bedeutung. In aller Munde ist die Meditation, ein eigentlicher Hype. Menschen mit allen möglichen Beschwerden wird zur Meditation geraten, und vielen tut das gut, aber eben nicht allen. Wenn traumatisierte Menschen meditieren, kann das gefährlich für sie sein. Wir finden es daher sinnvoll, diese beiden Themen am Bildungsfestival zu verbinden und darüber zu informieren.

Warum ist Meditation für traumatisierte Menschen nicht geeignet?
Beim Meditieren gehen viele aus dem Bezug zum Körper, und genau das sollten traumatisierte Menschen nicht tun. Im Gegenteil: Es geht darum, wieder Verbindung mit dem Körper aufzunehmen und den Körper in die Eigenwahrnehmung und in die Verarbeitung des Traumas miteinzubeziehen. «Embodiment» heisst das in der Fachsprache. Das gilt übrigens auch bei Zuständen wie Burnout: Die Leute leben dann eigentlich nur noch «im Kopf» und verlieren den Kontakt zum Körper. Das Nervensystem ist überreizt und überfordert, und Meditation ist in so einem Fall nicht hilfreich. Es kann sogar passieren, dass traumatisierte Menschen psychotische Symptome entwickeln, wenn sie meditieren. Sie müssen zurück in den Körper und nicht aus ihm hinaus.

«Darum geht es auch im Alltag: Aktivität und Erholung sollten sich abwechseln. Dieser Wechsel dient der Stressregulation, damit unser System nicht überlastet wird.»

Wie bringen Sie diese beiden Themen am Bildungsfestival zusammen?
Einerseits gibt es die Referate, für die wir bekannte Persönlichkeiten wie Joachim Bauer, Silvia Wetzel und Peter Levine gewinnen konnten. Sie liefern sozusagen die Fakten. Als Ausgleich dazu findet das Festival in der Natur statt, an einem wunderschönen Ort, mit dem See und den Bergen. Man lernt also quasi hochkomplexe Dinge inmitten der Natur und pflegt in den Pausen den menschlichen Kontakt mit der Community. Dazu gibt es Angebote wie Yoga und das Konzert am Samstag Abend. Darum geht es auch im Alltag: Aktivität und Erholung sollten sich abwechseln. Dieser Wechsel dient der Stressregulation, damit unser System nicht überlastet wird.

Woran merkt man denn überhaupt, dass man ein Trauma hat?
Wir unterscheiden zwischen Schock- und Traumaerfahrung. Eine Schockerfahrung ist geprägt von einer momentanen, kurzfristigen Überwältigung durch ein unerwartetes Ereignis, beispielsweise ein Unfall, ein Übergriff, eine Diagnose oder ein schwerer Verlust. In solchen Momenten sind Menschen überwältigt von der Wucht der Eindrücke und Gefühle. Sind sechs Monate später immer noch Symptome vorhanden, sprechen wir von einer «Posttraumatischen Belastungsstörung, PTBS». Solche Symptome können sich äussern als Angstzustände, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Flash Backs, unerwartete Erregungszustände oder andere Beschwerden, die nicht richtig eingeordnet werden können. In diesem Fall hat die Stressregulation nicht stattgefunden, das Erlebte ist immer noch präsent, obwohl es zeitlich schon weit zurück liegt. Der Körper spielt sozusagen immer dasselbe Programm wieder ab. Peter Levine erzählte kürzlich von einer neuen Studie aus den USA, wonach über 80 Prozent der Symptome, mit denen geplagte Menschen Hilfe bei Hausärzten suchen, auf zu viel unverarbeiteten Stress zurückzuführen sind. Wenn wir uns das vorstellen, erkennen wir rasch, welch grosses Potenzial eine Traumatherapie wie «Somatic Experiencing» hat, die sich gezielt der Stressregulation im Nervensystem widmet.

«In den letzten dreissig Jahren haben wir im somatischen Bereich viel Wissen aufgebaut. Wir sind bereit, dieses Wissen weiterzugeben, und das Bildungsfestival ist ein Mittel dazu.»

Wenn die Traumatherapie so ein grosses Potenzial hat, warum wird sie in der Schulmedizin nicht häufiger eingesetzt?
Das Problem bei der Umsetzung an breiter Front ist die Wirtschaftlichkeit. In den Institutionen hat man oft zu wenig Finanzen, Personal und Zeit für solche «langsamen» Therapieformen. Die Wirtschaftlichkeit steht im Vordergrund, und im Gesundheitswesen wird viel Geld verdient. Wir müssen das Humanistische wieder in den Fokus rücken, und die Zeichen dafür stehen gut. Das öffentliche Interesse daran wächst stetig, und in den letzten dreissig Jahren haben wir im somatischen Bereich viel Wissen aufgebaut. Wir sind bereit, dieses Wissen weiterzugeben, und das Bildungsfestival ist ein Mittel dazu.

Woran erkennen Sie, dass ein Wandel stattfindet?
Wir stellen eindeutig fest, dass das Interesse an unserer Arbeit in den letzten Jahren stark gestiegen ist. In unseren Trainings begrüssen wir immer mehr junge Therapeuten, Ärzte und Psychiater, die gemerkt haben, dass sie mit den bisherigen Methoden bei manchen Patienten nicht weiterkommen. Verhaltenstherapie zum Beispiel ist in vielen Fällen sehr sinnvoll, um die Leute zu stabilisieren, aber wenn das verborgene Programm nicht verändert wird, bleiben die Symptome oder verlagern sich. Eine weitere positive Entwicklung ist die Achtsamkeitsbewegung, die Fahrt aufgenommen hat. Sie macht vielen Menschen bewusst, dass man mit dem Dauerspeed den Karren irgendwann an die Wand fährt. Wir leben in einer 24-Stunden-Gesellschaft, sind dauernd online und werden mit Information und Reizen bombardiert. Das wird vielen Menschen zu viel. Sie versuchen von sich aus, wieder langsamer zu werden, und interessieren sich für Möglichkeiten, mit denen sie das lernen und sich selbst wieder besser spüren können.

«Wir leben in einer 24-Stunden-Gesellschaft, sind dauernd online und werden mit Information und Reizen bombardiert. Das wird vielen Menschen zu viel.»

Für wen ist das Bildungsfestival interessant? Für Menschen, die Hilfe suchen, oder eher für jene, die therapeutisch tätig sind?
In erster Linie sprechen wir «Multiplikatoren» an - Hausärzte, Psychiater, Psychologen, Psycho-, Körper- und Traumatherapeuten, Lehrer, Schulleiter, Sozialarbeiter und Politiker. Sie bekommen durch dieses Wissen etwas in die Hand, das sie in ihrem direkten Umfeld einsetzen und weitergeben können. Aber es sind auch Teilnehmende willkommen, die sich persönlich für diese Themen interessieren und mehr darüber erfahren wollen.

Die schwarze Jazz-Sängerin Othella Dallas sitzt auf einem Stein am See oder Meer und blickt in die Kamera
Othella Dallas sorgt am Samstag Abend für den kulturellen Höhepunkt des Bildungsfestivals. (Foto: zvg)

Das Konzert von Othella Dallas am Samstag Abend ist der kulturelle Höhepunkt des Festivals. Kann man das auch besuchen, wenn man nicht am Festival teilnimmt?
Ja, auf jeden Fall. Wir wünschen uns viel Publikum für das Konzert der «Grand Old Lady» des Jazz, Blues und Funk. Othella Dallas ist 94 Jahre alt und hat eine Power, die einen mitreisst. Sie wurde gerade mit dem Swiss Jazz Award ausgezeichnet und gehört schweizweit zu den beeindruckendsten Live-Acts. Wir freuen uns sehr, dass wir sie für das Festival gewinnen konnten.

Urs Honauer, vielen Dank für das Gespräch!


Mehr dazu

- Website des Bildungsfestivals mit Programm und Preisen
- «Wir haben das Recht, unser Leben neu zu erfinden»: Interview mit Urs Honauer in «männer zeitung 1/13»