In der Festung
Mit der grössten Selbstverständlichkeit wird die grösste Kirche der Welt noch immer von Männern regiert, die die Liebe nicht kennen. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Wenn ein Mann nie das Wunder der Liebe erlebt - wie traurig (Bild rottonara/Pixabay)
Wenn ein Mann nie das Wunder der Liebe erlebt - wie traurig (Bild rottonara/Pixabay)

Vor der Kirchentür sehe ich den Herrn Pfarrer stehen. Bald wird es Abend und die Vorabendmesse beginnt, aber noch sind die Schäfchen nicht eingetroffen. Eine Wolkendecke hängt über dem Dorf, das Licht ist trüb, die Luft kalt. Der Pfarrer, so scheint es, möchte nur frische Luft schnappen. Dann wird er vom Kircheneingang wieder verschwinden und den Gottesdienst vorbereiten.

Wie er da steht, so allein und als ob er auf etwas warten würde, denke ich daran, dass er als katholischer Gottesmann keine Frau hat. Ich mache mir selten Gedanken über das Zölibat. Doch als ich ihn da so stehen sehe, betrübt er mich. Ich erinnere mich an das Interview mit einem Bischof, das ich vor einigen Jahren gelesen habe.

Eingeführt in sein neues Amt als oberster Geistlicher der Katholischen Kirche unseres Landes, wurde der Bischof auch zu persönlichen Themen befragt. Eine Antwort ist mir geblieben – und weil ich das Interview wieder finde, kann ich die Antwort zitieren. Auf die Frage, ob er sich jemals zu einer Frau hingezogen gefühlt habe, erwiderte der katholische Landesherr:

«Ich war noch nie verliebt.»

Seine Aussage macht mich aufs neue betroffen. Dass ein Mann im fortgeschrittenen Alter sein Leben lang nie erlebt hat, was für ein Wunder die Liebe ist – wie traurig. Das Klopfen des Herzens, die Süsse der Sehnsucht, der tiefe Grund des weiblichen Körpers, all das, was dem Mann die Erfüllung bringt, die kein Amt, kein Beruf, keine Machtposition ihm ersetzen kann: Der hohe Geistliche weiss davon nichts.

Er selber meinte, die Richtige vielleicht nie gefunden zu haben. Damit liess er die Möglichkeit offen, dass es doch eine Frau für ihn hätte geben können. Warum fand er sie nicht? Schon in der Bibel – die dem Bischof bekannt ist – steht, dass man suchen muss, um zu finden. Könnte es sein, dass er zu wenig gesucht hat? Dass er vielleicht überhaupt nicht gesucht hat? Vielleicht hat ihn das Weibliche, als er jung war, so sehr verwirrt, dass er ihm jedesmal auswich, wenn sich Gelegenheit bot.

Irgendwann war er so weit entfernt von sich selbst und irgendwann im Gebäude des toten Denkens so sehr zuhause, dass er seine Hemmung verinnerlicht hatte. Dass er sich sagte: Ich bin so. Manchmal war er vielleicht sogar stolz auf seinen Verzicht.

Was der geistliche Herr all die Jahre in den Stunden getan hat, wenn sein Leib nach Erlösung und Sünde lechzte, wissen wir nicht. Vielleicht wird die Fleischeslust, bleibt sie lange Zeit ungestillt, müde und dürr. Man könnte sie fast vergessen. Und eines Tages hat man den Eindruck, nichts mehr zu vermissen. So stelle ich mir das vor. Zweifel hat der Bischof keine geäussert. Er glaubt, er habe richtig gelebt.

Sein privates Leben soll uns nichts angehen. Auch die geheimen Wünsche des Pfarrers, der da drüben vor seiner Kirchentür steht, gehören nur ihm allein. Er ist uns keine Rechenschaft schuldig. Was ich aber niemals verstehen werde, ist der Skandal, dass Männer, welche die Liebe nicht kennen, noch immer die grösste Kirche der Welt regieren. Regieren darf nur, wer das Leben kennt. Das Leben kennt nur, wer die Liebe kennt. Und die Liebe kennt nur, wer sie mit all seinen Sinnen erforscht hat. Wer es zumindest versucht hat. Wer sich wenigstens einmal entblösst hat.

Gegenüber der Katholischen Kirche befindet sich eine Tankstelle. Aus dem Tankstellenshop tritt eine Frau und begibt sich zu ihrem Auto. Flüchtig blickt sie zur Kirche hinüber, wo noch immer der Pfarrer steht. Er aber wendet sich um, öffnet die grosse Pforte und zieht sich zurück in die Einsamkeit seiner Festung.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist zu finden auf Spotify, iTunes und Audible.

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Kommentare

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Lieber Nicolas, dein Artikel hat vieles in mir berührt. Es gibt viele Ebenen und ich musste ihn auch zweimal lesen,um diese auseinander zu halten.
Woher weißt du, dass Liebe, die Liebe an sich, nur auf der körperlichen Ebene zu finden ist?Vieles was du geschrieben hast, über diesen Menschen, den du dort wahrgenommen hast sind Vermutungen, Unterstellungen und vielleicht sogar Anklagen. Unbestritten ist, dass die alte Macht Struktur , die Position der Institution der Kirche infrage zu stellen ist. wenn ihr aber weiterhin glauben, dass Liebe ein Gefühl ist und wir im außen ständig danach suchen müssen dadurch vielleicht enttäuscht und frustriert sind finden wir keine Liebe. Meine Erfahrung ist dass Liebe eine Entscheidung braucht, dass Liebe eine Einstellung grundsätzlicher Natur zum Leben ist. Selbstverständlich ist es schade die körperliche Liebe von vornherein ausschließen zu müssen, jedoch wenn wir das zur Bedingung machen, was ist dann mit den Menschen die das nicht können? Vielleicht weil sie behindert sind , vielleicht weil sie traumatisiert sind. Die Liebe zu Gott, egal welcher Religion ist meines Erachtens vielleicht die tiefste Dimension und auch die herausforderndste und ich finde es schade in deinem Artikel zu lesen dass du von so vielen pauschal Gedanken ausgehst. Ich glaube, dass ich mehr über dich erfahren habe als über den Menschen, den Du gesehen hast. Schade dass du ihn nicht gesprochen hast und ihn gefragt hast, wie es ihm geht, wie er sich fühlt und was seine Gedanken sind. Herzliche Grüße

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Ich habe nirgends geschrieben, dass Liebe «nur auf der körperlichen Ebene zu finden» ist. Aber zur Liebe gehört für mich auch die sinnliche Liebe: «Die Liebe kennt nur, wer sie mit all seinen Sinnen erforscht hat. Wer es zumindest versucht hat.»
Solange das Zölibat aufrechterhalten wird, dürfen nur unverheiratete Männer Priester werden, Konkret sollen sie keinen Sex haben - von den höheren Geistlichen nicht zu reden. Das ist nach wie vor die Doktrin. Wenn ein geweihter Priester die sinnliche Liebe trotzdem lebt, muss er es «heimlich» tun. Das Bild mit dem Priester an der Tür ist ein sogenanntes «Symbolbild». Der unbekannte Abgebildete steht für alle seine Berufskollegen, die sich dem Dogma des Zölibats beugen und deshalb die körperliche Liebe aus ihrem Leben ausklammern. Ausnahmen bestätigen die Regel.

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