Der Gott MEHR

Als Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die traditionellen Götter etwas an Spannkraft verloren hatten, hörte man immer häufiger von einem bis dahin eher wenig beachteten Nebengott mit dem Namen MEHR. Der Gott MEHR stand nicht wirklich für eine eigene Heilslehre, sondern verstand es eher, bestehende Konzepte zu skalieren, zu vergrössern und ihnen darum einen gewissen Glanz zu verleihen. Besonders reizvoll war sein Einsatz in Kombination mit menschlichen Eigenschaften wie dem Ego, der Gier oder der allgemeinen Angst vor Verknappung. Seine Strategie, dass MEHR eben besser sei, fiel damals auf unerwarteten fruchtbaren Boden.

Seitens der traditionellen Religionen gab man sich zuerst bedeckt. Man kannte MEHR eigentlich aus früheren Zeiten, hatte gerne dann und wann mal seine Dienste in Anspruch genommen, war aber nie soweit gegangen, dass man ihm erlösende oder gar heilsbringende Qualitäten unterstellt hätte. Im Gegenteil: Gerade der Katholizismus stand dem Gott MEHR recht kritisch gegenüber, betonte lieber andere Nebengottheiten wie den der Askese, der Sparsamkeit oder der Opferbereitschaft. Auch die Protestanten als traditionell recht aufgeschlossene Glaubensgruppe in Sachen materieller Ertüchtigung, hatten nicht mit einer derart starken Wirkung von MEHR gerechnet. Lange noch wohlwollend, merkten sie erst spät den zersetzenden Effekt, den MEHR auf ihre Postulate von Nächstenliebe und Gemeinschaftlichkeit hatte.

MEHR kam in eine Zeit hinein, da die Menschen etwas ratlos wurden angesichts der nicht mehr notwendigen repressiven Gottheiten. Man hatte Gefallen gefunden an den Errungenschaften des eigenen Wohlstandes, der Mobilität und der beheizten Eigenheime. MEHR war viel aufbauender als die kontemplativen Heilslehren, die immer Zweifel säten und die Früchte der Zivilisation und des Reichtums anzweifelten. MEHR war hier viel kooperativer, ja anspornender. Er unterstützte diese Errungenschaften und Bestrebungen und forcierte sie mit seinem Credo des ständigen Zuwachses. Denn MEHR, so sein Grundsatz, war besser.
Klarer, so die gängige Meinung, konnte ein Gottesbeweis kaum ausfallen.

MEHR fand ideale Voraussetzungen in einem Umfeld, das sich endlich selber belohnen wollte. Man war es satt, den Prinzipien der Väter folgen zu müssen und sich einer ständigen Moral der Mässigung unterwerfen zu müssen. MEHR war eine Art Befreiungsschlag und wurde entsprechend auch gefeiert. Grosszügig wurde das Land den Segnungen des MEHR zugehalten: Strassen, Gewerbegebiete, Einfamilienhäuser und Staudämme wurden gebaut. Dank Vierradantrieb und Internet wurden selbst abgelegene Talschaften und sonst eher zurückhaltende Regionen von den Segnungen des MEHR überzeugt, worauf sie auf ihre bescheidene Art ebenfalls teilhatten an der Erfüllung.

Dabei war MEHRs Stärke noch gar nicht richtig ausgeschöpft. Seine wahre Göttlichkeit bewies er in den Gefilden, wo Glaube, Hoffnung und Zuversicht voll zum Tragen kamen: Im Börsengeschäft und der GeldverMEHRung. MEHR zeigte der Menschheit, dass die Loslösung vom Materiellen hier und jetzt schon möglich sei und damit nicht bis zum letzten Tag gewartet werden müsse. Geld, so zeigte er, war eine Sache der Energie, des Glaubens und der Sichtweise, und nicht etwa gebunden an menschliche Beschränkungen wie Arbeit oder Sparsamkeit. Er zeigte auch, dass die wundersame VerMEHRung jedem zuteil werden könne, wenn man nur im richtigen Glauben an sie stehe. Aktien, Wertpapiere und andere Glaubensutensilien machten unerwartete Höhenflüge und wurden Inbegriff des der Menschheit geschenkten MEHRs. Kritiker, die von Mässigung und Nachhaltigkeit redeten und sich dem Glauben ans MEHR verweigerten, indem sie nur Arbeit als Basis des Einkommens akzeptierten, wurden mit ärmlichen Erträgen bestraft, während die wahrhaft Gläubigen fast täglich ihre Ernte zählen und betrachten konnten.

Es waren tatsächlich goldene Zeiten, die der Gott MEHR auf die Erde holte und viele daran teilhaben liess. Die Segnungen seines Wirkens waren so zahlreich, dass in praktischen allen Belangen seine Göttlichkeit Niederschlag fand. Es füllten sich die Strassen und Einkaufszentren mit Anhängern seiner Lehre. Fernsehkanäle präsentierten täglich die Errungenschaften des MEHR in all ihrer Buntheit und Verlockung. Politische Programme wurden umgeschrieben zugunsten der vollständigen Integration des MEHR in jede Art der Überlegung. Schulen predigten seine frohe Botschaft und plädierten dafür, endlich die Grenze zwischen Wissen und Glauben niederzureissen, da endlich die Zeit gekommen sei, da beides eins sei, wie es die alten Gelehrten schon immer wussten. Wert ohne Glaube existiere nicht, sagten sie, und bewiesen es mit den einfachen Regeln der Spekulation.

Dem Volk gefiel der Gott MEHR besser als alle bisherigen Götter, sodass es sich fortan zu MERHheiten zusammenschloss um ihm noch besser gerecht zu werden und notwendige Entscheidungen zugunsten des MEHR besser fällen zu können. Es war die Stärke des gemeinsam gefundenen Weges, der die Völker einte und die Grenzen niederreissen liess, damit MEHR in jeden Teil der Welt gelangen könne. Gesetze oder Handelshemmnisse, die dem MEHR entgegenstanden, wurden abgeschafft, Organisationen zur Förderung und Lobpreisung des internationalen MEHR geschaffen. Kritiker des MEHR wurden mit Verachtung bestraft und verspottet. Überhaupt gab es kaum Menschheitsfragen, die nicht am besten mit der Heilslehre des MEHR gelöst werden konnten: Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Unterentwicklung. Einzige Variable im ganzen Prozess sei das MEHR an MEHR, wie es versierte Theologen bzw. Wirtschaftswissenschaftler erklärten.

Eines Tages allerdings formierten sich Zweifel am MEHR. Niemand konnte genau sagen, woher sie kamen. Viele behaupten, es wäre der Umweltschutz gewesen, die diese goldene Zeit des MEHR beendete. Andere sagen, es seien die Sterne gewesen, die in ungünstiger Konstellation über der Erde gestanden hätten und darum den Gott MEHR aus seinem Wirkungsfeld vertrieben hatten. Wieder andere sagten, es seien die Ungläubigen gewesen, die zwar in geringer Menge aber doch in unnachgiebiger Weise die Segnungen des MEHR angezweifelt hätten, bis es zu Fall kam.
Tatsache aber war, dass die Welt in eine schwere Sinnkrise versank, als das MEHR nicht mehr ständig MEHR wurde und sich Kummer und Sorgen verbreiteten.

Lange noch versuchten staatliche Institutionen über Kampagnen und Stützkäufe das MEHR künstlich zu erhalten. Denn das MEHR, das war allen klar, was ja nur eine Glaubenssache, eine Gottheit, eine Art Einbildung ohne realen Bezug, die man auch wieder beleben könnte, wenn man nur daran glauben würde. Oder wie es die gewieften Werber formulierten: „Das MEHR beginnt im Kopf.“
Aber das MEHR liess sich nicht zurückholen. Allerlei Anstrengungen wurden unternommen, die letzten Erdölreserven investiert, die armen Länder noch ein letztes Mal ausgebeutet und die Natur geschunden, um das MHER zu bewegen, wieder zurück zu kommen. Doch es kam nicht mehr. Es wurde immer klarer: Das MEHR war vorbei. Es war GENUG.

14. Oktober 2008
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