Er schaut immer zu und scheint immer zu wissen, was richtig wäre.

Illustration: Aditi Desai

Als Kinder hatten wir ein klares Gespür für richtig und falsch. Wenn ein Spielkamerad eine Schokolade auf den Spielplatz mitbrachte, dann musste er einfach teilen, anders ging es nicht. Als ein neuer Junge einem anderen nichts abgeben wollte, waren wir schier fassungslos. Schliesslich erklärte meine Freundin ihm ernst: «Du musst, sonst blutet doch sein Herz.» Das drückte genau aus, was wir fühlten. Zwar wussten wir nicht so richtig, was das medizinisch heisst und ob man daran stirbt ..., aber der Junge teilte die Schokolade nun anstandslos.

«Es sei dir gesagt, Mensch, was richtig ist und was falsch», steht in der Bibel. Doch wer oder was sagt uns das? Was hält die Hand eines Jägers zurück, wenn er sieht, dass die Beute ein Junges ist? Was fordert uns auf, die Stimme gegen eine Ungerechtigkeit zu erheben, auch wenn andere schweigen? Was lässt uns zögern, die liegengebliebene Geldbörse in die eigene Tasche zu stecken, auch wenn niemand uns sieht? Und welche innere Instanz müssen wir übertönen, um dem Liebsten doch noch mal die alte Lüge aufzutischen: «Ich musste länger im Büro bleiben ...»?

Einheit ist der Kern aller Ethik. Wir müssen einst gefühlt haben, dass der Schmerz eines anderen auch mir weh tut.

Nur Erziehung, Konvention, Moral? Gesetzestafeln aus der Wüste? Angst vor Bestrafung? Oder gibt es doch eine Instanz in uns, die ganz zuinnerst weiss, was richtig ist und was wir lieber bleiben lassen? Ein authentisches – sagen wir es ruhig – Gewissen?

Ich habe persönlich keinen Zweifel, dass ein Gewissen existiert, unabhängig von Religion und Erziehung. Es ist der heile, gesunde und wissende Kern, und er lebt in jedem einzelnen Menschen. Er mag geschunden, zerfetzt und zu Boden getreten sein durch tausend Situationen, in denen wir nicht auf ihn hörten – nicht auf ihn hören konnten, denn «der Mensch an sich ist gut, doch die Verhältnisse, die sind nicht so», wie Brecht sagte. Wer in einer modernen Zivilisation seine innere Wahrheit sagt, – über sich selbst, seine Mitmenschen und Chefs, über sein Begehren oder politische Wahrnehmung – gerät in Konflikt. Wir haben ein Zusammenleben kreiert, das es so gut wie unmöglich macht, dem zu folgen, was unser Gewissen uns sagt. Entweder folgst du deiner inneren Wahrnehmung oder dem Gesetz. Schon allein diese beiden Gebote: «Du sollst nicht lügen» und «Du sollst nicht begehren deines nächsten Weib» stürzen einen gesunden und aufrichtigen Menschen in einen Dauerkonflikt. Gebote zu errichten und sie moralisch zu begründen, war das perfideste Herrschaftsinstrument: Wo es Gesetze gibt, gibt es Gesetzesbrecher, und Schuldgefühle oder Angst vor Strafe machen sie regierbar.

Und doch gibt es diesen Kern. Trotz allem. Ich habe ihn mitten in einem Wutanfall entdeckt und fand ihn zunächst eher lästig. Jemand hatte mich beleidigt, ich zog alles auf, was ich hatte – Tränen, Retourkutschen, Argumente unter der Gürtellinie ... und da hörte ich plötzlich diese feine, stille Stimme in mir. Ziemlich trocken, jedenfalls ohne jede Verurteilung. «Du weisst ja schon, dass du gerade auf der falschen Spur bist. Hinterher wird es dir leidtun. Du könntest auch sofort aufhören.»
Tat ich aber nicht. Ich führte diesen Wutanfall redlich zu Ende, zerschlug alles zwischenmenschliche Porzellan – aber viel später, im Stillen, dachte ich nach. Ich nannte diese Stimme wegen ihrer Nüchternheit den «Zeugen». Wer bist du?, fragte ich. Wenn du es doch so gut weisst, warum kannst du mir und allen Menschen nicht in den uns und der Erde so viel ersparen. Es wäre wunderbar, wenn wir dich in jedem Menschen ansprechen könnten und wüssten, wir stossen auf Resonanz.

Doch ein Zeuge ist kein Richter und kein Polizist. Und was sagt der Zeuge? Nicht lügen. Teilen. Auf die Schwächeren achten. Anderen helfen. Sich einfühlen. Anderen eine Stimme geben ... Je mehr ich hinhöre, desto mehr verstehe ich: Er ist die Stimme der Einheit. Einheit ist der Kern aller Ethik. Wir müssen einst gefühlt haben, dass der Schmerz eines anderen auch mir weh tut – und sensible Menschen können das auch heute noch. Wir können nicht aufrichtig glücklich werden, wenn ein anderes Wesen unter unseren Taten leidet. Ich kann nicht wirklich Freiheit fühlen, wenn ich den Willen eines anderen Wesens breche. Der Zeuge ist die tiefe Erinnerung an diese Einheit. Ihm zu folgen, ist ein Rezept für ein friedliches Zusammenleben der grossen Lebensfamilie. Oder, wie Dieter Duhm in «Terra Nova» schreibt: «Alle Nationen, Kulturen und Völker, alle Stämme, Gruppen und Individuen sind Organe im Organismus der Menschheit. Organe verletzen sich gegenseitig nicht.»   

Leila Dregger ist Autorin des Buches «Frau-Sein allein genügt nicht – mein Weg als Aktivistin für Frieden und Liebe», edition Zeitpunkt 2017.

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