Der steinige Weg zur Rückeroberung der Neutralität
Der SVP beitreten? Eine Grosskundgebung auf dem Bundesplatz? Wie kann in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Bedeutung der Neutralität entstehen?
Für mich ist die Neutralität der Schweiz so heilig wie unser weisses Kreuz im roten Feld. Eine Schweiz ohne Neutralität wäre für mich keine Schweiz mehr. Als sich deshalb der Bundesrat am 28. Februar dazu entschloss, sich an den Russland-Sanktionen der EU zu beteiligen und die Neutralität damit preiszugeben, war das für mich wie ein Schmerz am eigenen Leib. Hätte jemand noch gleichentags zu einer Spontankundgebung vor dem Bundeshaus aufgerufen – ich wäre hingegangen. In der Hoffnung, vielen tausend anderen zu begegnen.
Doch was letztes Jahr im September an einem Mittwochabend mühelos möglich gewesen war – dass mehrere zehntausend Menschen spontan gegen die Corona-Politik protestierten – , geschah diesmal nicht. Niemand reiste nach Bern, niemand rief dazu auf. Nur einige Wenige wagten sich auf die Strasse.
Ich konnte das nicht verstehen. Das diktatorische Muskelspiel der Behörden in der Corona-Zeit fand ich schlimm und empörend. Aber die Preisgabe der Neutralität war aus meiner Sicht um ein Vielfaches schlimmer. Der von oben beschlossene Dolchstoss schlug in unser Land eine blutende Wunde.
Mein monatlicher Gastkommentar auf Transition TV, nur wenige Tage später, trug deshalb den Titel «Neutral bleiben!». Der an die Freiheitsbewegung gerichtete Kommentar endete mit den Worten:
«In dieser konfliktreichen Welt, die seit den letzten zwei Jahren polarisierter, hasserfüllter denn je ist, braucht es Menschen, die die Welt nicht schwarzweiss, sondern farbenreich sehen. Es braucht Menschen, die den Mut haben, die Welt nicht von vornherein in Freund und Feind aufzuteilen. Es braucht Menschen, die den Mut zur Neutralität haben. Wir sind solche Menschen. Oder, besser gesagt: Wir können versuchen, solche Menschen zu sein. Gefunden haben wir uns in den letzten zwei Jahren. Wir haben erkannt, dass wir viele sind. Und wir sind Schweizerinnen und Schweizer. Wir leben in einem Land, das immer neutral war. Wir leben in einem Land, das dem Schwarzweissdenken der Welt stets ein offenes, farbiges Denken vorgelebt hat. Ein Herzdenken.
Deshalb bleibt uns nur eins: Wir müssen zurück zur Neutralität. Schwarzweissdenken führt zu Hass und zu Krieg. Überwinden wir es in uns selbst! Überwinden wir es für die Welt. Unser Land soll wieder vorangehen. Ich wünsche mir eine Grosskundgebung in Bern für die Neutralität.»
Ich wollte nichts unversucht lassen und doppelte nach. An eine Organisation in der Freiheitsbewegung schrieb ich folgende Zeilen:
«Ihr habt vielleicht mitbekommen, dass ich auf Transition TV zu einer Grosskundgebung in Bern für die Neutralität aufrief. Könnte es sein, dass ihr bereits eine solche Kundgebung plant? – Ich werde meinen Vorschlag auch der JSVP unterbreiten. Vielleicht wäre sogar die SVP selbst dafür zu gewinnen?
Jedenfalls bin ich überzeugt, dass viele Menschen nach Bern kommen würden: All jene, die jetzt schweigen, weil es im Moment beinahe tollkühnen Mut braucht, um gegen den prowestlichen Mainstream anzuschwimmen. Auch mit grosser Teilnahme der Corona-Massnahmengegner dürfte gerechnet werden.»
Darauf erhielt ich am 9. März folgende Antwort:
«Wir haben das im Vorstand diskutiert. Grundsätzlich sollen wir tatsächlich alle für Neutralität einstehen. Wir erachten es aber gerade als etwas heikel, eine Kundgebung zu organisieren. Wenn, dann müssten verschiedene Organisationen dahinterstehen.»
Das zweite, ähnlich lautende Mail an die Junge SVP wurde von einem ihrer Exponenten mit den Worten beantwortet, dass er eine Kundgebung zwar privat zu 100% unterstützen würde, sich aber bezüglich des Russland-Konflikts politisch nicht äussern wolle.
Die Antworten holten mich auf den Boden der politischen Realität zurück. Aber ich hatte Verständnis für die Zurückhaltung der beiden Gruppierungen. In jenen ersten Wochen des Krieges, wo das Mitgefühl für die Ukraine von den Medien permanent hochgepeitscht wurde, hätten die Initianten einer Kundgebung für die Neutralität viel Zivilcourage an den Tag legen müssen. Der Mainstream hätte ihr Engagement als pro-russisch gebrandmarkt. Man hätte sie in den Medien beschimpft. Und die Polizei hätte möglicherweise sogar versucht, die Kundgebung zu verhindern.
Trotzdem konnte mich die anti-neutrale Hetze nicht daran hindern, an die Notwendigkeit einer mächtigen Antwort auf dem Bundesplatz zu glauben. Im Gegenteil – mit jedem Tag, an dem der Staat aufs neue bewies, wie vorsätzlich er bereit war, das Wesen unseres Landes auf dem Schafott des Opportunismus zu opfern, fand ich es dringender, für die Schweiz auf die Strasse zu gehen. Allein die Mobilisierung des Volkes konnte den Bundesrat dazu bringen, im Zerstören unserer Werte innezuhalten.
Aber wer kann das Volk mobilisieren, fragte ich mich, wenn nicht einmal wir uns getrauen? – Im Kampf gegen das Corona-Gesetz haben wir Hunderttausende mitreissen können. Aber für die Neutralität der Schweiz gelingt es uns nicht, ein Zeichen zu setzen. Obwohl sie existentiell ist.
Angesichts der dramatischen Situation – überlegte ich weiter – können wir es uns nicht leisten, in unserer Blase zu bleiben. Es ist eine grosse Blase, eine ernstzunehmende Kraft, doch irgendwie möchte sie «klein, aber rein» bleiben. Das ist der falsche Weg. Wenn wir in den kommenden Jahren für eine freie, neutrale Schweiz eine Bewegung aufbauen wollen, die ihren Namen verdient, müssen wir uns mit allen Kräften verbinden, mit denen wir uns verbinden können. Und ich meine damit vor allem die SVP.
Das war das Thema meines nächsten Gastkommentars auf Transition TV. Unter der Überschrift «Plädoyer für eine Partei, die uns nahesteht» argumentierte ich:
«Welche Partei hat als einzige Nein zum Covid-Gesetz gesagt? Die SVP. Die SVP. Welche Partei wagt es als einzige, den Ukraine-Konflikt nicht schwarzweiss zu sehen? Die SVP. Welche Partei hält als Einzige an der Neutralität der Schweiz fest? Die SVP. Welche Partei bekämpft als einzige konsequent die Allmacht des Staates? Die SVP. Und keine Partei ist so sehr eine Volkspartei wie die SVP. Deshalb heisst sie auch so. Warum wählen wir sie dann nicht?»
Ich gab mir selber die Antwort:
«Weil ihr Image wie Pech an ihr klebt. Weil ihre Wahlplakate manchmal so dumm sind. Weil sie die poltrigen Sprüche nicht lassen kann. Weil ihr Auftritt so bieder und altmodisch wirkt. Weil die Regierungsräte und Bundesräte der SVP mehr dem Staat als dem Volk dienen. Und weil die SVP Positionen vertritt, die wir möglicherweise nicht teilen können. Ich wähle sie trotzdem. Weil es keine Partei geben kann, die mir zu 100% entspricht.»
Die innerparteilichen Widersprüche der SVP, ihr breites Spektrum zwischen Roger Köppel auf der einen und Guy Parmelin auf der anderen Seite konnten mich nicht davon abhalten, mich mit ihr zu versöhnen. Ich sah in der SVP eine Chance. Eine Chance auch für die Freiheitsbewegung.
Doch beim Aufruf, sie künftig zu wählen, liess ich es nicht bewenden. Wenn ich politisch einmal in Fahrt gerate, brennt mein Temperament mit mir durch. Ich erinnerte mich an die 70er-Jahre, als viele 68er-Linke sich sagten: Wenn wir die Arbeiterschaft für unsere Ziele gewinnen wollen, müssen wir in die SP hineingehen. Und tatsächlich gelang es ihnen, die verbürgerlichte Sozialdemokratie wieder auf Linkskurs zu bringen.
Könnten wir denselben Versuch, dachte ich, nicht auch in der SVP unternehmen? Die Volkspartei für unsere Ziele gewinnen? Sie aufrütteln aus ihrem Schlaf der konservativen Gerechten? Ihr massenhaft beitreten?
Die Idee tönt für mich immer noch interessant. Aber ich sehe weit und breit niemanden, der sich dieselben Überlegungen macht. Und auch die SVP selbst unternimmt nichts, um ihre Türen und Tore für die Freiheitsbewegung zu öffnen. Dennoch – ich bleibe dabei: Wir können uns keine Berührungsängste mehr leisten. Die SVP darf kein Tabu mehr sein. Wir müssen sie in unsere Überlegungen einbeziehen.
Inzwischen hat die Partei eine Volksinitiative für die Neutralität angekündigt. Das ist sicher begrüssenswert – doch die Beschränkung auf das Instrument der Initiative genügt nicht. Es braucht mehr als das. Es braucht ein Bewusstsein im Volk für die Neutralität. Dieses Bewusstsein kann nur entstehen, wenn die Schweizerinnen und Schweizer erkennen, dass ihre persönliche Freiheit von der Freiheit des Landes abhängig ist. Ohne Neutralität, ohne Unabhängigkeit werden wir auch die Freiheit verlieren. Stück für Stück. Nicht nur beim Thema Gesundheit. Sondern in allen Lebensbereichen.
Soweit darf es nicht kommen. Weder darf uns der Westen zwingen, die Sanktionen gegen die Russen zu unterstützen, noch darf er uns zwingen, dem Diktat der WHO zu gehorchen. Eine blockfreie, neutrale Schweiz ist auch eine WHO-freie Schweiz. Was während Jahrhunderten galt und sich bewährte, soll weiterhin gelten: Die Menschen im Lande von Wilhelm Tell beugen sich weder fremden Vögten noch fremden Gesetzen. Wir entscheiden selbst, was für uns gut ist. Unsere Weltoffenheit beruht auf unserem eigenen, in der Bundesverfassung verankerten Selbstverständnis.
Diese Grundhaltung könnte das Fundament eines breitangelegten Bündnisses sein, dem die Organisationen der Freiheitsbewegung ebenso angehören wie etablierte politische Kräfte und Einzelpersonen. Eine gemeinsame Charta wäre Ausdruck des gemeinsamen Nenners, auf den man sich einigen kann. Wer die Grösse und das Fingerspitzengefühl besitzt, ein solches Bündnis ins Leben zu rufen, darf eines Ehrenplatzes in der Schweizer Geschichte gewiss sein.
*
Ich wünsche mir immer noch eine Grosskundgebung auf dem Bundesplatz. Ich wünsche mir viele Tausende freie Menschen, die für eine freie, neutrale Schweiz auf die Strasse gehen. Noch ist die Zeit dafür offensichtlich nicht reif. Noch ist die Angst vor Gegenangriffen grösser als die Entschlossenheit. Doch der Tag wird kommen, und ich werde dabei sein.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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