Dass ein Wolf im magischen Engadin in einer einzigen Sommernacht 37 Schafe gerissen hat, ist eine zweifellos schlimme Nachricht. Der hemmungslose Blutrausch, mit dem er über die Tiere herfiel, ist schlimm für die Bauern, denen die Schafe gehörten, und schlimm für die Tiere selbst, die einen grausamen Tod erlitten. Trotzdem drängt sich mir eine unangenehme Frage auf: Wieviele Tiere haben am gleichen Tag wir Menschen gerissen?
Würden wir der Sache nachgehen, käme allein in den Metzgereien des Engadins eine stattliche Anzahl geschlachteter Lebewesen zusammen. Ausserdem muss der Wolf, der leider noch kein Vegetarier ist, einiges auf sich nehmen, bis er die Schafe erwischt. Er muss zuerst eine Herde finden, die ungenügend bewacht ist. Er muss auf der Lauer liegen und sich gedulden. Und wenn ihm längst das Wasser im Munde zusammenläuft, erweist sich der elektrisch geladene Zaun vielleicht doch als unüberwindbar.
Wir Menschen haben es da etwas leichter. Wir können auch ohne Fleischverzehr leben. Hunger leiden müssen wir nicht. Auch im Winter nicht. Und packt uns doch die Lust auf ein Schnitzel, müssen wir nicht hinter Bäumen stehen, die Flinte im Anschlag, bis wir endlich abdrücken dürfen. Wir müssen auch nicht damit rechnen, danebenzuschiessen. Das nächste Steak liegt vakuumverpackt gleich um die Ecke für uns bereit. Wir müssen unsere Gier nicht zügeln – oder höchstens, bis das Tier in der Pfanne brutzelt.
Das Geschöpf Gottes sterben zu sehen, bleibt uns glücklicherweise erspart. Seine Tötung ist eine unangenehme Begleiterscheinung, die wir gerne vermeiden würden. Aber sie findet bekanntlich hinter verschlossenen Türen statt. Ein Schlachthof ist kein Ort für Sentimentalitäten. Was als Unschuldslamm ahnungslos durch die Vordertür geht, kommt als Fleisch zum Hintereingang heraus.
Das Fleisch hat Namen. Es hat die Namen von Tieren, und wir schätzen die Auswahl. Haben wir kein Verlangen nach Rind, sind auch Kälbchen im Angebot oder Schweinchen und zur Abwechslung sogar Pferdchen. Von soviel Schlaraffenland kann unser Wolf nur träumen.
Die Bestie darf nun geschossen werden. 37 gerissene Schafe sind 37 zu viel. Das leuchtet ein. So etwas dürfte nicht wieder geschehen. Doch wirklich gerecht ist es nicht. Wenn schon, müsste auch bei uns eine Quote festgelegt werden. Reisst ein Mensch mehr als, sagen wir, 1 Kilogramm Fleisch pro Woche, kann sein Abschuss bewilligt werden.
Eine böse Schlussfolgerung. Ich erschrecke selber darüber. Auch ich bin ein Mensch, und die Lust auf Fleisch ist auch mir nicht fremd. Aber wenn ein Wolf 37 Schafe reisst, tut er dies nicht, weil er will. Er muss es tun. Der Mensch hat die Wahl. Der Wolf nicht. Er wird bestraft für seine Natur, während der Mensch glücklich davonkommt.