Die Freiheit, sich zu begnügen

Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

Gleichviel Wohnraum für alle - klingt das nicht naheliegend? / © Nicolas Lindt

Als Kind war mir das nicht bewusst. Ich sah die schönen Häuser in ihren Gärten, und manchmal kannte ich die Bewohner, weil meine Eltern sie kannten, und manchmal waren es ältere Leute oder sogar nur eine ältere Dame, die ganz allein in ihrem Haus residierte. Aber ich machte mir über sie keine Gedanken, ich wusste nur, ihr Mann war gestorben und ihre Tochter lebte im fernen Amerika.

Doch dann wurde ich ein junger kritischer Mensch, und eines Tages überlegte ich mir: Warum wohnt die verwitwete alte Dame ganz allein in ihrem schönen, vornehmen Haus mit den viel zu vielen Zimmern und dem viel zu grossen Garten? Ich fand, die Frau könnte ihr Haus doch einer jungen, kinderreichen Familie vermieten oder es ganz verkaufen und in eine Alterswohnung umziehen. Dort würde sie sich bestimmt wohler fühlen als allein inmitten so vieler unheimlich leerer Zimmer.

Auf einmal sah ich überall Häuser, deren Räume zum grossen Teil unbenutzt waren. Das störte mein soziales Empfinden. Ich fand es ungerecht, dass Familien erfolglos günstigen Wohnraum suchten, während alleinstehende ältere Hausbesitzer stur in ihren Palästen hockten. Hätte ich damals die Macht gehabt, zu entscheiden, dann hätte ich aus Gerechtigkeitsgründen verfügt, dass niemand mehr als 3 Zimmer für sich allein beanspruchen darf.

Zum Glück für die alte Dame in unserer Nachbarschaft hatte ich keine Entscheidungsbefugnis. Und damals gab es auch keine Partei, die so etwas ernsthaft gefordert hätte. Aber das war einmal. Aus dem linken und grünen Spektrum kommen in jüngster Zeit immer wieder Postulate, die angesichts der wachsenden Wohnungsnot ältere Hausbesitzer in zu grossen Häusern und ältere Mieter in zu grossen Wohnungen mit sanfter Gewalt dazu drängen wollen, in kleinere Einheiten umzuziehen und den unbenutzten Platz freizugeben.

Gerade vor ein paar Tagen hat in Deutschland eine grüne Bundestagsabgeordnete diese Forderung erneut aufgestellt: Rentner sollten aus ihren Häuschen in kleinere Wohnungen ziehen, um Platz für Familien zu machen. Der Umzug wäre natürlich freiwillig, beeilte sich die Parlamentarierin zu betonen. Aber vieles war zuerst freiwillig. Den Grünen der Schweiz genügte dies von Anfang an nicht. Vor einigen Monaten forderten sie in Gemeinden mit knappem Wohnraum eine obligatorische Wohnraumbegrenzung bei Neubauten und Neuvermietungen. Erlaubt wären höchstens 46 Quadratmeter pro Bewohner. Soviel Platz belegt heute eine Person im landesüblichen Durchschnitt.

Das politische Ziel ist durchschaubar: Wenn die Wohnungsnot es erfordert, sollen Einzelpersonen ihren Platz räumen. Gleichviel Wohnraum für alle. Klingt das nicht naheliegend und nur gerecht? – Der junge, idealistische Mensch, der ich damals war, hätte zugestimmt. Doch der Mensch, der ich heute bin, ist dagegen. Ich bin immer noch Idealist, doch meine heutigen Ideale sind andere. Sie liegen nicht mehr im Diesseits, sondern im Jenseits.

Denn damals stellte ich mir nicht die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen. Damals wusste ich nichts von Karma. Heute trage ich die Gewissheit in mir, dass wir auf dieser Welt jedes Mal wieder eine andere Rolle, eine andere Aufgabe haben. Einmal gehört uns ein Schloss, das nächstemal bloss eine Hütte. Nur so können wir etwas lernen. Nur so verstehen wir auch, warum die Welt nicht gerecht ist. Dann können wir akzeptieren, dass eine alte Dame allein in ihrem Zehnzimmerhaus bleiben will, während eine Familie im gleichen Dorf mit einer Sozialwohnung auskommen muss. Dann müssen wir uns nicht empören. Dann müssen wir auch nicht neidisch sein, sondern wir können denken: Leben und leben lassen. Jeder ist seines Glückes Schmied.

Das bedeutet nicht, dass die Familie in der Sozialwohnung sich damit abfinden muss, in solcher Enge leben zu müssen. Es bedeutet auch nicht, dass wir der Familie nicht helfen sollen. Und die Frage ist sehr legitim, ob ein einzelner Mensch wirklich zehn Zimmer zum Wohnen braucht. Aber niemals darf es ein Zwang sein. Die alte Dame darf nicht gesetzlich genötigt werden, ihr Haus zu sozialisieren. Menschen, die Gerechtigkeit auf der Welt erzwingen und letztlich gewaltsam durchsetzen wollen, sind Menschen, die nur an das Diesseits glauben. Aber das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt. Vollkommene Gerechtigkeit gibt es nur im Himmel.

Was für die alte Dame gilt, ist für mich ein Prinzip – ein Prinzip des Zusammenlebens. Jeder von uns darf die Freiheit für sich beanspruchen, so viele Quadratmeter, wie er will, zu bewohnen. Aber jeder Mensch, der so luxuriös wohnt, hat auch die Freiheit, darauf zu verzichten. Die Freiheit zu lernen, dass Luxus im Leben nicht alles ist. Die Freiheit, sich zu begnügen.

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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