Manche Menschen empfinden in jüngerer Zeit eine Scham, die sie früher gar nicht verstanden hätten. Sie schämen sich, dass der Mensch von alters her als die Krone der Schöpfung gilt, weil er zum Denken befähigt ist. Dieses Bild einer irdischen Hierarchie teilen sie nicht. Sie verneinen, dass ihnen die göttliche Gabe des Denkens eine höhere Stellung gegenüber den anderen Lebewesen verleiht. Sie fühlen sich gleichberechtigt mit ihnen und betrauern das Leid, das der Mensch den Tieren und Pflanzen Tag für Tag antut.
Auch mir sind diese Gefühle nicht fremd. Auch mich bekümmert das absolutistische Regime des Menschen über die Mitgeschöpfe auf unserer Erde. Auch ich erkenne die Schuld, die der Mensch auf sich lädt, indem er das Privileg seines Denkens zum Zweck seiner Herrschaft so oft missbraucht. Und ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor etlichen Jahren mit meinem jüngeren Sohn geführt habe.
Er kam eines Tages von der Schule nach Hause und erzählte vom Religionsunterricht. Besonders beschäftigte ihn ein Gedanke, den der Lehrer den Schülern mit auf den Weg gab. Dass der Mensch – so habe der Lehrer erklärt – von Gott auserwählt, die Verantwortung für die Schöpfung trage und daher über den Tieren stehe, sei eine biblische und veraltete Haltung.
Mein Sohn wollte wissen, wie meine Einstellung dazu sei, worauf ich etwas zögernd erwiderte, das sei eine grosse Frage – zu gross für die knapp bemessene Zeit über Mittag.
«Eigentlich aber», fuhr ich dann fort, «glaube ich schon, dass der Mensch – auf die Erde bezogen – die Krone der Schöpfung ist.»
Mein Sohn wollte wissen, warum, und meine spontane Erwiderung, ich würde es einfach glauben, stellte ihn nicht zufrieden.
Da fiel mir glücklicherweise ein, was ich am gleichen Morgen gelesen hatte. Ein Autofahrer, erzählte ich meinem Sohn, war unterwegs auf der Autobahn, als ihm ein Milan vors Auto flog. Der erschrockene Fahrer lenkte sein Fahrzeug zum Pannenstreifen, stieg aus und sah zu seinem Entsetzen, dass der Vogel beim Aufprall steckengeblieben war - vorne, im Kühlergrill. Doch er lebte noch, worauf der Autofahrer die Polizei rief.
Die Beamten, die bald zur Stelle waren, schauten sich den gefangenen Vogel in seiner misslichen Lage an, kamen jedoch gemeinsam mit dem Fahrer des Wagens zum Schluss, eine Rettung des Tieres wäre nur möglich, wenn der Kühlergrill demontiert und aufgeschweisst würde. Der Mann war sofort damit einverstanden. Er gab seine Zustimmung, obwohl er wusste, dass sein Auto danach repariert werden musste.
Mit Hilfe des Tierrettungsdienstes, der kurze Zeit später, von der Polizei alarmiert, ebenfalls an der Autobahn eintraf, wurde der Vogel dem Tierspital zugeführt, wo man ihn aus seinem Gefängnis befreite. Die Verletzungen, die er beim Aufprall erlitten hatte, waren jedoch so schwer, dass das leidende Tier erlöst werden musste, was für alle Beteiligten traurig und bedauerlich war.
Der Autofahrer, die Polizisten, der Tierrettungsdienst, die Mitarbeiter im Tierspital, sie alle hatten sich eingesetzt, um dem Milan zu helfen, obwohl von Anfang an wenig Aussicht bestanden hatte, ihn retten zu können. Und obwohl er doch nur ein Vogel war.
Sie hatten es trotzdem getan.
«Siehst du», sagte ich meinem Sohn, «deshalb glaube ich, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist.»
Der Milan, wenn er noch leben könnte, würde mir recht geben.