Die letzten Nonnen vom Val Müstair
Im östlichsten Dorf der Schweiz wohnen seit Jahrhunderten Benediktinerinnen des Klosters Sankt Johann. Doch der letzte Eintritt liegt bereits Jahre zurück.
Es klopft zwei Mal wie aus dem Nichts, und die Nonnen des Val Müstair erheben sich. «Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde», beten die neun Schwestern, während sie mit ihrem Daumen ein Kreuz auf die Lippen zeichnen. Es sind die ersten Worte, die ersten Klänge des Tages. Es ist halb sechs Uhr morgens. Dunkelheit umhüllt das Val Müstair, ein abgelegenes Bündner Tal. Schweigend verbrachten die Benediktinerinnen des Klosters die letzten zehn Stunden in ihren Zimmern. So schreibt es die Regel des heiligen Benedikt vor – ein dünnes Buch mit 73 Kapiteln. Es ist eine 1500-jährige Betriebsanleitung für ein spirituelles, klösterliches Leben. Daran halten sich die Schwestern von Müstair strikt.
«Ora et labora» – bete und arbeite. Das ist seit mehr als 1200 Jahren die Devise im Kloster Sankt Johann. Der Legende nach war Karl der Grosse für den Bau verantwortlich. Als er nach seiner Krönung aus der Lombardei nach Norden zog, geriet er auf dem nahe gelegenen Umbrailpass in ein Unwetter. Dass er unversehrt im Tal ankam, glaubte er der Hilfe Gottes schuldig zu sein und stiftete als Dank das Kloster.
Anfangs lebten hier Mönche einen minutiös durchgeplanten Alltag mit fünf gemeinsamen Gebeten und der heiligen Messe. Dazwischen wurde geputzt, gekocht, gegärtnert, gestickt, gebacken, gesammelt, geturnt oder gelesen. Gäste wurden freundlich bewirtet. Doch im 12. Jahrhundert zogen die wenigen verbliebenen Mönche aus und Benediktinerinnen übernahmen das Zepter. Bis heute.
In der kleinen Eckkapelle rezitieren die Schwestern nun einen Psalm nach dem anderen. Sie sprechen wie aus einem Mund. Das rhythmische Gebet wird zum Tonteppich; die Stimmen verlieren sich. Hier werden die Schwestern eins. Mit sich und Gott. Genau eine halbe Stunde lang. Dann läutet die Kirchglocke sechs Mal und die Schwestern schreiten der Reihe nach zur Statue der Jungfrau Maria, knien nieder und verlassen die Kapelle in Stille.
Als letzte geht Schwester Pia. Seit sechzig Jahren ist dieses Labyrinth von Heiligenstatuen, Klostergängen, Treppen, Winkeln und Zimmern ihr Zuhause. «Ich spürte schon immer den Zug ins Kloster», erinnert sich die gebürtige Zürcherin. Doch als sie mit 18 den Schritt wagen wollte, riet ihr eine damalige Ordensschwester, erst einmal die Welt zu erleben.
So wurde die Tochter eines Arztes stattdessen wissenschaftliche Zeichnerin, reiste nach Paris, illustrierte Bücher, lernte von bekannten Künstlern. Nur das Kloster ging ihr nicht aus dem Herz. Nicht einmal ein Heiratsantrag konnte sie umstimmen. Sicher war sie sich trotzdem nicht. Zwar spürte sie die Berufung zur Nonne. Doch ihr fehlte ein eindeutiges Zeichen. «In den Sommerferien besuchte ich das Männerkloster in Disentis und betete dort zur Mutter Gottes. Ich bat sie, mir zu zeigen, was ich tun soll. In Erwartung auf ein Zeichen trat ich mit pochendem Herzen aus der Kirche», erzählt Schwester Pia. «Da stand ich prompt vor einer Klosterfrau, die mich freundlich grüsste. Im selben Moment sah ich im Hintergrund, wie mein Freund gerade ins Dorf davonrannte. Ein Ausflug nach Müstair besiegelte das Zeichen. «Ich ging in die Kirche und wusste: Hierhin gehöre ich.» Da war sie 26 Jahre alt.
Während die Nonnen im Erdgeschoss ihr Frühstück einnehmen, schiebt sich die Sonne aus dem nahen Südtirol über den Piz Chavalatsch. Aus dem Engadin kurvt ein paar Mal am Tag das Postauto über den Ofenpass ins Tal. Es gondelt durch den Nationalpark an Gämsen und Lärchenwäldern vorbei, bis sich die Weite des Val Müstairs öffnet. 1538 Menschen wohnen hier auf einem Gebiet so gross wie der Kanton Zug.
Schwester Pia streift in ihrem schwarzen Gewand durch den Klostergarten und streichelt eine der vier Klosterkatzen. Umringt von den Mauern und Trakten des Klosters wachsen hier Kräuter für Tee, Kräutersalz und Salben, Gemüse für die Küche sowie Beeren und Äpfel an knorrigen Bäumen. Das Kloster solle, wenn möglich so angelegt werden, dass sich alles Notwendige innerhalb des Klosters befinde. So bräuchten die Mönche nicht nach draussen zu gehen. Das verlangt eine weitere 1500-jährige benediktinische Regel, um weltliche Ablenkungen einzudämmen. Und so wird es auch in Müstair gehandhabt. Denn die Nonnen leben in Klausur – ihre Räumlichkeiten sind der Ordensgemeinschaft vorbehalten und werden nur selten verlassen. Früher durften die Schwestern einzig durch ein zwei Meter breites Gitter mit ihren nahen Verwandten sprechen oder die Füsschen eines neugeborenen Neffen streicheln. Hinzu kommt die benediktinische strenge Hierarchie.
«Am Anfang spürte man die Klausur», erinnert sich Schwester Pia. «Es war ein Schock. Ich merkte, dass ich nicht mehr schreiben, nicht mehr telefonieren, meine Familie nicht mehr sehen darf. Das war sehr schwierig für mich.» Nicht einmal zur Beerdigung ihrer Eltern ging die heute 86-Jährige. Und die Abgeschiedenheit war nur ein Teil der strengen Prüfung, die das Klosterleben mit sich brachte. Jahrelang demütigte sie die Novizenmeisterin. In benediktinischen Klöstern ist diese Strenge keine Seltenheit, denn viele verstehen das Klosterleben auch als Ersatz fürs Martyrium. Und trotzdem dachte sie nie daran, das Kloster zu verlassen. «Wäre ich fortgegangen, wäre ich damit untreu geworden», erklärt sie.
Schwester Pia wurde 1985 zur Priorin gewählt. Nun hatte sie das Sagen und wollte vieles anders machen. In ihren Augen ist die strenge Klausur ungesund. Und auch mit Blick in die Zukunft aus ihrer Sicht nicht der richtige Weg. Vielleicht war es die eigene Erfahrung, vielleicht der rasante Wandel der Welt, mit der man trotz dicker Mauern und eisernen Gittern immer wieder in Kontakt kommt. Als Erstes liess sie das Gitter – das Symbol der strengen Klausur – zumauern. Heute dient es als Halterung für Olivenzweige und Blumen und erinnert an längst vergangene Zeiten. Über Exerzitienkurse und Kräuterworkshops wird zusätzlich Kontakt mit der Aussenwelt gepflegt.
Auch neue Schwestern wären gern gesehen, seit vielen Jahren gibt es keine neuen Eintritte mehr ins Kloster. «Wenn heute überhaupt jemand den Gedanken hat, ins Kloster zu gehen, muss man der Person sehr Sorge tragen», weiss auch Schwester Pia. Man spürt die Resignation der feinfühligen und bescheidenen Frau. «Ich glaube nicht mehr daran, dass noch jemand eintritt», gesteht sie und lächelt. In einem der vielen Gänge stehen die Zügelkisten einer Anwärterin, die wieder abreist. «Sie wäre für uns eine grosse Hoffnung gewesen.» Aber für eine radikale Erneuerung bieten die starren benediktinischen Regeln wohl zu wenig Spielraum.
Der Klosterfriedhof liegt gepflegt und still neben der Kirche. Eine Holzbank umschlingt eine grosse Linde und lädt zum Verweilen ein. Während Angehörige die Gräber pflegen und verwelkte Blumen entfernen, kümmert sich Schwester Birgitta um die Gräber ihrer verstorbenen Mitschwestern. Nebeneinander liegen sie an der Nordmauer, gekrönt von filigranen, schwarzen Metallkreuzen.
Schwester Birgitta ist mit 55 die jüngste Benediktinerin in Müstair. Eine welterfahrene Frau, die viel und gerne gereist ist. Sie arbeitete als Kinderbetreuerin in Shanghai und liebt den Moment, wenn ein Flugzeug abhebt, erzählt sie. Mit 38 spürt sie zum ersten Mal den Ruf ins Kloster. Doch sie traut ihren schwer zu beschreibenden Gefühlen nicht. «Ich sagte zu Gott: Das kann ich nicht. Du hast dich getäuscht.» Dann mehren sich die Zeichen. Eine längere Krankheit mischt sich mit religiösen Erlebnissen. Sie erinnert sich an eine Wallfahrt nach Sheshan in China. «Die Menschen gingen den Kreuzweg auf den Knien, haben gesungen und gebetet.» Sie besucht mehrere benediktinische Gemeinschaften. Müstair berührte ihr Herz und bestätigte ihr die Entscheidung.
Anfangs gingen die Mitschwestern auf ihre Bedürfnisse ein. Vielleicht wollte man sie nicht abschrecken, vielleicht war ihre Offenherzigkeit so einnehmend. «Ich hatte so viele Freiheiten, wie ich benötigte. Ich bekam sehr viel Besuch.» Doch jede Schwester kennt auch die Prüfungen, das Martyrium. «Nach einem Jahr nahm mir Gott alles, was ich lieb hatte.» Plötzlich war es aus mit den alten Freiheiten. «Ich haderte damals oft mit Gott.» Doch sie hielt durch. Andere junge Schwestern gaben auf und verliessen das Kloster. Die starren Regeln, die strenge Hierarchie, der Mangel an Freiheit waren zu viel. Für Schwester Birgitta war das keine Option: «Wäre ich aus dem Kloster gegangen, hätte ich doch die genau gleichen Probleme gehabt.»
Welche Zukunft bleibt dem Kloster? Schwester Birgitta legt die Antwort in Gottes Hände. Das kleine, auf 30 Nonnen ausgelegte Kloster hat auch schon härtere Zeiten erlebt. Im 16. Jahrhundert wohnten zwei Schwestern hinter diesen Mauern, Anfang des 19. Jahrhunderts nur sechs. Würde sie zur nächsten Priorin gewählt, schwebte ihr vieles vor. Der Kontakt zur Aussenwelt ist ihr wichtig. Regelmässig liest sie Zeitung und freut sich auf Besucherinnen. Denn alte Freundschaften dürften mit dem Eintritt ins Kloster nicht begraben werden. Schwester Birgitta empfindet zwar mit ihren Mitschwestern gegenüber eine enge Gemeinschaft, doch Freundinnen unter den Schwestern möchte sie keine haben. Das bringe die innere Freiheit und Unabhängigkeit in der Meinungsbildung in Gefahr.
Elf benediktinische Frauenklöster gibt es noch in der Schweiz. Alle kämpfen mit der gleichen Sorge. Die Schwestern werden älter, können nicht mehr arbeiten, das Gehen fällt ihnen schwer und irgendwann werden sie pflegebedürftig. Und weil der Nachwuchs ausbleibt, gibt es immer weniger Menschen, die sich rund um die Uhr um das leibliche und seelische Wohl der kranken, alten Schwestern kümmern können. Erst vor kurzem mussten zwei Klöster schliessen. Im Kloster Sarnen entsteht derzeit ein Zusammenschluss von mehreren Gemeinschaften. Früher lebten dort über sechzig Nonnen; heute sind nur noch wenige übriggeblieben. Nun ziehen die Schwestern aus Melchtal und Wikon ein. «Wir wären auch willkommen», sagt Schwester Pia.
Mit einer angefangenen Stickerei sitzt Schwester Clara im Besuchszimmer. Hinter ihr besagtes zugemauertes Gitter, links davon die Tür zur Klausur, wo den Besuchern der Zutritt verboten ist. Ihren Gehstock hat sie lässig an die Wand gelehnt. «Die Zukunft ist nicht rosig», gibt die 85-Jährige zu. Weil sie schon am längsten im Kloster lebt, steht sie in der benediktinischen Hierarchie ganz zuoberst und darf zum Beispiel als erste die Kommunion empfangen. Von einem Umzug will Schwester Clara nichts wissen. «Ich bleibe in Müstair und will auch hier begraben werden.»
Die Bündner Berge, die Einsamkeit und den gemeinschaftlichen Frieden würde sie vermissen. Mit zarten 18 Jahren trat sie ins Kloster Müstair ein. Als fünfzehntes von 17 Geschwistern einer Familie aus einem Dorf bei Illanz. Auch ein Transfer ins Spital des Nachbardorfs Santa Maria kommt nicht in Frage. Denn seit der Reformation ist Müstair als einziges Dorf im Tal katholisch geblieben. Das Kloster liegt so im doppelten Sinn an der Grenze, denn in fünf Minuten ist man zu Fuss im Südtirol.
Täglich beten Schwester Pia und ihre Mitschwestern mehrere Stunden für die Anliegen anderer. Auf kleinen Zetteln oder per E-Mail bringen diese ihre Sorgen und Bitten ins Kloster. Auch in ihren spärlich eingerichteten Zimmern – ein Bett, ein Lavabo und ein Schrank – beten sie für andere. «Die Schwester meines Vaters betete zehn Jahre lang, dass ich ebenfalls ins Kloster gehe», erinnert sich Schwester Pia.
Im Gegensatz zu vielen anderen hat das Kloster Sankt Johann noch das Erbe vieler Jahrhunderte zu bieten. In der Kirche finden sich karolingische Fresken aus dem 9. Jahrhundert und weitere kulturelle Schätze. Nicht umsonst gehört es seit 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Ist es das, was zurückbleibt, wenn die Schwestern nicht mehr da sind? «Hier würde alles zu einem Museum werden», meint Schwester Birgitta. Zu einem leblosen Museum allerdings. Denn ohne praktizierende Nonnen ginge auch der spezielle Geist verloren, der jedes Jahr Besucherinnen und Pilger anlockt.
Die letzten Strahlen blinzeln hinter dem weis-sen Piz Turettas hervor. Es ist Zeit für die Komplet, das letzte Gebet des Tages. Die Priorin klopft. Die Nonnen erheben sich.
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