Die Neuverdrahtung der Kindheit war ein Fehler
Zum Buch «Generation Angst - Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen» von Jonathan Haidt
Seit 34 Jahren bin ich in verschiedenen pädagogischen Berufen und Rollen aktiv, seit 2009 Geschäftsleiter des Vereins MenschenBildung, der sich seit 1974 für eine kindgerechte Erziehung und Bildung engagiert.
Mir selber liegt vor allem kindgerecht am Herzen - denn was nützen gute Schulen, Bildungs- oder Erziehungsmodelle voller guter Absichten, wenn das Grundlegende fehlt um gesund aufzuwachsen: tragende Beziehungen, kindgerechte Lebensbedingungen und Lebensräume. Kindgerecht handeln bedeutet, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass die Kindheit ein besonders sensibler, verletzlicher Lebenschabschnitt ist, in dem alle Erfahrungen prägend für das gesamte Leben sind. In all diesen Belangen gab es in den letzten Jahrzehnten einschneidende Veränderungen.
Die wachsende Zahl verhaltensauffälliger und psychisch instabiler Kinder weist uns schon länger darauf hin, dass die Entwicklungsbedingungen für immer mehr Kinder nicht mehr kindgerecht sind. Die zunehmende Bildschirmzeit der Kinder in den letzten 15 Jahren ist eine der Hauptursachen dafür.
Spätestens seit 2012, als das Buch «Digitale Demenz» von Manfred Spitzer herauskam, habe ich mich fundiert mit dem Einfluss der Digitalisierung auf die Kindheit befasst. In Gesprächen und Beratungen mit Eltern habe ich immer dieselbe entmutigende Erfahrung gemacht: Vor der Pubertät geben sich alle Väter und Mütter souverän und beruhigen sich damit, den Medienkonsum mit zeitlichen Begrenzungen und Abmachungen im Griff zu haben. Dass das Einleben in diesen virtuellen Welten dann spätestens im Jugendalter all diese Regeln sprengen wird will im Voraus niemand wissen.
Dann kam Corona und auch die gefühlt letzten, gleichgesinnten Kreise schalteten um auf Online-Unterricht, Webinare, Zoom-Meetings, und alle waren froh um diese Möglichkeiten. Da habe ich resigniert und mir vorgenommen, zu diesem Thema künftig zu schweigen. Nun haben mich aber verschiedene Ereignisse und persönliche Erfahrungen bewogen, mein Schweigen an dieser Stelle zu brechen:
- Die Beratung und Begleitung von Jugendlichen & jungen Erwachsenen, die in der virtuellen Welt verloren gehen und den Tritt ins Leben und die Welt nicht mehr schaffen.
- Die Begleitung zweier Teenager als Vater
- Die Tatsache, dass wir in der Schweiz die Digitalisierung der Schulen weiter vorantreiben, ungeachtet der Tatsache, dass die Länder, denen wir nacheifern, zunehmend versuchen, diese Entwicklung wieder rückgängig zu machen.
- Die Lektüre des neu erschienenen Buches «Generation Angst» von Jonathan Haidt, das uns die Augen für die Folgen einer smartphonebasierten Kindheit öffnet.
So liegt es mir am Herzen, euch an dieser Stelle das sehr empfehlenswerte, aufrüttelnde Buch von Jonathan Haidt näher bringen. Wer davon nichts wissen will kann direkt durchscrollen zu den Veranstaltungshinweisen oder die Lektüre hier beenden.
Tatsächlich ermöglichen Smartphones und andere digitale Angebote Kindern und Jugendlichen so viele interessante Erfahrungen, dass sich daraus ein ernsthaftes Problem ergibt: Sie verringern das Interesse an allen nicht bildschirmbasierten Formen der Erfahrung. Smartphones sind wie der Kuckuck, der Eier in die Nester andere Vögel legt. Das Kuckucksküken schlüpft früher als die Küken des Wirts und bugsiert die anderen Eier aus dem Nest, um das gesamte Futter, das die ahnungslosen Wirtseltern anschleppen, für sich allein zu haben. Ebenso gilt: Wenn ein Smartphone, ein Tablet oder eine Spielkonsole im Leben eines Kindes Eingang findet, wird dieses Gerät die meisten andern Aktivitäten verdrängen...
(Jonathan Haidt)
«Generation Angst – Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen»: Unter dem obengenannten Titel veröffentlichte der Rowohlt-Verlag im Juli 2024 die deutschsprachige Ausgabe des Buches «The Anxious Generation», der New York Times Bestseller Nr. 1 des Professors für Sozialpsychologie, Jonathan Haidt. Der Autor zeigt darin anhand zahlreicher internationaler Erhebungen auf, dass sich die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in der Welt seit den 2010-er Jahren rapide verschlechtert. Nüchtern und fundiert geht er der Frage nach, weshalb Depressionen, Angststörungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizide unter Heranwachsende derart schnell und drastisch zugenommen haben.
Er zeigt auf eindrückliche Weise auf, dass die Auslöser dieser globalen Krise drei technologische Megatrends sind: Smartphones, Social Media und Selfie-Kultur. Wenn wir ehrlich sind mit uns, könnten wir diese Entwicklung alle sehen und fühlen. Das müsste uns eigentlich genug erschüttern, um zu reagieren. Heute gilt aber unsere Wahrnehmung wenig. Wer glaubhaft sein will, muss mit Zahlen und Studien argumentieren und damit beliefert uns Haidt ausführlich.
Die Zunahme folgender Probleme in den USA seit 2010 in Prozent:
Schwere Depressionen bei Teenagern:
+145 % (Mädchen),
+161 % (Jungen)
Psychische Erkrankungen bei Studierenden:
Angststörungen +134 %, Depressionen +106 %, ADHS +72 % , Anorexie +100 %, Schizophrenie +67 %, Substanzmissbrauch/Sucht +33%.
Notaufnahmen wegen Selbstverletzung:
+188 % (Mädchen), +48 % (Jungen)
Suizidraten bei Heranwachsenden:
+167 % (Mädchen), +91 % (Jungen)
Starke Angstgefühle:
+139 % (Alter 18-25), +103 % (Alter 26-34),
+52 % Alter (35-49), +8 % (Alter 50+)
Dass die «Neuverdrahtung der Kindheit» derart gravierende Wirkungen zeigt, hat, wie Haidt fundiert darlegt, eine Vorgeschichte: Mit Kabelfernsehen und Gratiszeitungen wurden wir seit den 80-er Jahren mit Schreckensnachrichten aus aller Welt überflutet, zunehmend auch gut bebildert. Dies löste einen grundlegenden Wandel im Umgang mit unseren Kindern aus. Bis dahin liessen Eltern ihre Kinder draussen mehrheitlich sorglos unbeaufsichtigt spielen und gingen davon aus, dass es bei Bedarf draussen auch noch Erwachsene gibt, die einem Kind von sich aus zu Hilfe kommen oder die ein Kind um Hilfe bitten kann. Die globale Verbreitung von Schreckensnachrichten steigerte die Befürchtungen, dass fremde Erwachsene da draussen eine Gefahr für die Kinder sind, und führten zur Überzeugung, dass die Welt kein sicherer Ort mehr ist, in dem sich Kinder frei bewegen können.
So kam es zum fatalen Doppeleffekt: Kinder werden in der realen Welt immer mehr überbehütet - auf Kosten des freien Spiels, der eigenen Erfahrung im Umgang mit Risiken und Ängsten, Lösung von Konflikten ohne Erwachsene und dem Aufbau und der Pflege von Freundschaften. Gleichzeitig rauben die sozialen Netzwerke, Game-Welten und Streamingdienste immer mehr Kindern einen viel zu grossen Teil ihrer Entwicklungszeit in der realen Welt und, nicht zuletzt, auch Schlaf und Erholung.
Wie sollen sich Kinder entwickeln und in die Welt hineinwachsen, wenn sie sie mehrheitlich nicht mehr oder nur noch von Erwachsenden begleitet, angeleitet oder mindestens überwacht betreten dürfen?
Mit dem «Niedergang der spielbasierten Kindheit» haben wir einen so grossen Teil des Fundaments der kindlichen Entwicklung abgesägt, dass es immer mehr Kindern nicht mehr gelingt, zu psychisch und sozial gesunden Erwachsenen zu heranzuwachsen.
Haidt macht, wie es auch aus den oben erwähnten Zahlen ersichtlich ist, geschlechterspezifische Unterschiede aus: Mädchen tendieren eindeutig mehr zu psychischen Schwierigkeiten und selbstverletzendem Verhalten. Die Jungs hingegen ziehen sich immer mehr in virtuelle Abenteuer und Welten zurück und schaffen dann als junge Männer den Weg in die reale Welt nicht mehr.
Diese Entwicklung lässt sich weltweit feststellen, am stärksten im englischsprachigen Raum und den nordischen Ländern. Aber auch hierzulande sind Kinder- und Jugendpsychiatrie hoffnungslos überlastet.
Es ist höchste Zeit zu realisieren, dass durch die rapide und grundlegende Veränderung unserer Lebenswelt immer mehr Kindern die Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen fehlen. Unsere Aufgabe wäre es, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was altersgerechte, kindgerechte Lebenswelten sind und ihnen diese Räume wieder zu schaffen.
Haidt macht denn auch pragmatische Vorschläge, was zu tun ist. Einige davon gebe ich hier stark verkürzt weiter.
Für Eltern:
- Kein Smartphone vor der Highscool (unter 14), besser noch keins unter 16 Jahren
- Keine sozialen Medien/Netzwerke unter 16 Jahren
- Viel mehr unüberwachtes Spiel und Unabhängigkeit in der Kindheit
- Altersentsprechende, zeitlich klein gehaltene Mediennutzung, Zugang nur zu Plattformen/Homepages, die dem Alter entsprechen.
- Damit solche Massnahmen greifen, ist es sehr hilfreich, wenn sich die Eltern zusammenschliessen.
Für Schulen:
- Smartphonefreier Schulbetrieb. Das Handy wird bei Schulbeginn abgegeben und erst fürs Heimgehen wieder zurückgegeben. Pausen und Mittagszeit bleiben handyfrei, damit das Spiel und soziale Miteinander vor Ort wieder aufleben können
- Viel mehr freies Spiel. Längere Pausen. Spielzeit mit geeigneten Spielräumen, mit viel weniger Aufsicht, Spielregeln und Interventionen von Erwachsenen.
Alarmieren sollte uns im Bildungsbereich auch das zunehmende Gefühl der Schulentfremdung durch die Vereinsamung am Bildschirm:
Was tut man in der Not, wenn keine Kinder mehr in den Wald gehen oder draussen spielen und man endlich erkannt hat, welch fatale Konsequenzen das hat?
«Wir bauen, dort wo die Kinder sind, Plätze, die die Erfahrungen ermöglichen, wie wir sie in unserer eigenen Kindheit im Wald machten» sagt Adam Bienenstock, Gründer der international tätigen Firma «Bienenstock Natural Playgrounds».
Wir Erwachsene sind also gefordert, unsere Kinder in die wirkliche Welt zurückzuholen und alles uns mögliche zu tun, sie mit ihr zu verbinden. Mit ansteckender Begeisterung sollten wir unsern Kindern möglichst viele Inspirationen bieten, Welten erschliessen, Erfahrungen ermöglichen.
Schulareale sollten Kinderparadiese werden, die das Potenzial bieten, Entwicklungsdefizite der Sinne und der Motorik auszugleichen. Orte, die den Eltern vorleben, was Kinder eigentlich zum guten Gedeihen bräuchten und sie inspirieren, ihnen weitere solche Räume und Erfahrungen zu bieten. Schulen sollten „Dörfer" sein, in denen Gemeinschaft noch geübt und gepflegt wird, sich alle aufgehoben und wahrgenommen fühlen. Unser oberstes Erziehungsziel müsste lauten, die natürliche Neugier, Begeisterungsfähigkeit und Bewegungsfreude zu erhalten und zu fördern. So würden wir den Kindern Orte bieten, die individuelle Menschwerdung wieder ermöglichen. Dieser Einsatz, mit unserer Zuwendung und Präsenz muss stärker sein als der Sog der virtuellen Welt.
Die Menschheit hat sich auf der Erde entwickelt. Die Kindheit war eine evolutionäre Entwicklungsphase, geprägt von körperlichen Spiel, Erkundung und Abenteuer. Kinder gedeihen, wenn sie in Gemeinschaften der wirklichen Welt verwurzelt sind, nicht in körperlosen virtuellen Netzwerken. Das Aufwachsen in der virtuellen Welt fördert Angst, Anomie und Einsamkeit. Die grosse Neuverdrahtung der Kindheit, von einer spielbasierten zu einer smartphonebasierten Kindheit war ein katastrophaler Fehler. Es ist Zeit das Experiment zu beenden. Lassen Sie uns unsere Kinder nach Hause holen.
(Jonathan Haidt)
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Christian Wirz
Christian Wirz, *1967, verheiratet, Vater von 2 Söhnen. Beruflich bisher in verschiedenen pädagogischen Bereichen tätig: Als Primarlehrer, Jugendarbeiter, Fachperson und Mediator zu Jugendgewalt und Rassismus. Aktuell Hausmann und Vater, Geschäftsleiter des Vereins «MenschenBildung – Kindern begegnen» und freier pädagogischer Berater.
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