«Die Parteien verkaufen Ämter, die ihnen nicht gehören»
57 Richterinnen und Richter sprechen am Bundesgericht in Lausanne Urteile über Fälle, die an die höchste nationale Instanz gelangt sind. Die Kandidaten für das Richteramt werden von den Parteien bestimmt und vom Parlament für jeweils sechs Jahre gewählt, können aber ohne Amtszeitbeschränkung wiedergewählt werden. Die Justiz-Initiative will nun das Bundesrichteramt entpolitisieren. Die Initiative wird von allen Parteien abgelehnt. Doch dies ist unter Umständen nicht sehr aussagekräftig, da die Befürworterinnen und Befürworter genau dies kritisieren: Die Parteien wollen das aktuelle System aufrecht erhalten, weil sie davon profitieren – auch finanziell.
Laut der SRG-Umfrage vom 16. November sind zurzeit 50 Prozent der Stimmberechtigten gegen die Justiz-Initiative, die am 28. November zur Abstimmung kommt. 9 Prozent sind noch unentschieden. Derweil haben alle Parteien die Nein-Parole herausgegeben, wobei oft angemerkt wird, dass sie das Kernanliegen – der Entpolitisierung des Bundesrichteramtes – eigentlich befürworten. Die Meinungen über das vorgeschlagene Losverfahren, welches das bisherige Wahlverfahren ersetzen soll, gehen dagegen diametral auseinander. Nur ein einziger Nationalrat stimmte für die Initiative, der Ständerat geschlossen dagegen.
Knackpunkt ist die Frage, inwiefern die Parteizugehörigkeit die heutigen Bundesrichterinnen und -richter beeinflusst, sprich ob es ihnen möglich ist, unabhängige Urteile zu fällen. Doch diesbezüglich ist die Debatte in einer Pattsituation stagniert: Die Initianten der Justiz-Initiative beantworten die Frage eindeutig mit Nein, während die Gegnerinnen und Gegner ihnen vorwerfen, dass es sich dabei um eine Verleumdung handelt. Dies macht es für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger schwierig, eine faktenbasierte Entscheidung zu treffen.
Das Interview mit dem ehemaligen Zürcher Oberrichter Peter Diggelmann im «Bund» hat hohe Wellen geschlagen, denn er sagt ganz klar: Im heutigen System sei es schwierig, als Richter unabhängig zu sein. Die Erwartungshaltung, dass man im Sinne seiner Partei entscheidet, setze einen konstant unter Druck. Laut Initiant Adrian Gasser schlägt sich dies auch in den Urteilen nieder: «In 95 Prozent aller Fälle, in denen Privatpersonen gegen den Staat prozessieren, wird zu Gunsten der Behörden entschieden», sagt er im Interview mit dem Zeitpunkt. Doch was passiert, wenn Richter sich widersetzen? «Im Kanton Zürich wurde vor einigen Jahren nach einem Urteil in einer Strafsache ein offener Brief herumgereicht», sagt Diggelmann gegenüber dem Bund. «Darin drohten Mitglieder des Kantonsrats, dass die beteiligten Richter bei einem ähnlichen Urteil nicht wiedergewählt würden.» Dass die Parteien gegen die Initiative sind, ist sowohl für Diggelmann als auch für Gasser logisch, denn die Parteien profitieren massiv vom aktuellen System – auch finanziell.
Die so genannte Mandatssteuer an ihre Parteien, die Bundesrichterinnen und -richter jährlich leisten müssen, ist – genauso wie die Parteizugehörigkeit – nicht gesetzlich festgelegt; und doch ist sie verbindlich. Die Höhe der «Steuer» variiert je nach Partei. Laut SRF beläuft sie sich bei den Grünen auf 15’000, bei der CVP auf 6’000 und bei der SP auf 13’000 – womit die Mandatssteuern insgesamt fünf Prozent des Parteibudgets ausmachen. FDP und SVP haben ihre Zahlen nicht offengelegt.
«Keine Zufallsentscheide, keine Willkür, keine Lotto-Treffer» – so der Slogan der SP gegen die Justiz-Initiative. Doch laut Gasser ist eine Entpolitisierung der Richterinnen und Richter nicht anders möglich als durch ein qualifiziertes Losverfahren. «Die Parteien verkaufen Ämter, die ihnen nicht gehören. Dies ist und bleibt eine Vetterliwirtschaft. Wer garantiert uns, dass der geeignetste Kandidat gewählt wird und nicht derjenige, der die besten Beziehungen hat oder sich jahrelang um die Partei verdient gemacht hat? Dazu kommt, dass sich Richterinnen und Richter ohne Parteizugehörigkeit gar nicht erst bewerben, weil sie wissen, dass sie sowieso keine Chance haben.» Mit der Entpolitisierung des Bundesrichteramtes würde als auch die Bandbreite von qualifizierten Kandidatinnen und Kandidaten grösser.
Laut heutiger Gesetzgebung ist es nicht zwingend, dass Bundesrichterinnen und Bundesrichter eine umfassende Rechtsausbildung hinter sich haben. Gasser schlägt deshalb vor, dass eine Fachkommission anhand eines klar definierten Kriterienkataloges Punkte an Bewerberinnen und Bewerber verteilt. «Wer dabei zum Beispiel auf 75 von 100 möglichen Punkten kommt, ist für das Amt qualifiziert und kommt in den Lostopf. Die Parteien spötteln über diesen Vorschlag, aber wenn wir einen Topf haben, in dem sich nur die Besten und Qualifizierten befinden, ist jede Ziehung ein Gewinn.» Auf diese Weise werde die Bandbreite möglicher Kandidatinnen und Kandidaten grösser.
Auch dass die Wiederwahl von Bundesrichterinnen und -richtern abgeschafft werden soll, erscheint vielen suspekt. Der Grund, dass Gasser diese Bestimmung in den Initiativtext aufgenommen hat, hängt jedoch eng mit seinem Kernanliegen zusammen: «Die Richter müssen ständig auf der Linie der Partei bleiben, um nicht abgewählt zu werden. Neu soll es keine Wiederwahl mehr geben, jedoch die Möglichkeit für ein Enthebungsverfahren im Fall von Amtsmissbrauchs. Das gibt es heute nicht.»
Die Justiz-Initiative ist das Resultat eines 60 Jahre langen Reflexionsprozesses Gassers. «Ein Theaterstück, das ich mit 14 gesehen habe, hat den Ausschlag gegeben: Pontius Pilatus vereinte Exekutive, Legislative und Judikative in einer Person und hatte damit die absolute Macht, Urteile zu fällen. Natürlich ist das heute in der Schweiz nicht so extrem, und doch: Die Verbändelung von Parlament und Bundesrichter verhindert echte Unabhängigkeit. Dies geht so weit, dass jemand, der Bundesrichter werden möchte, unabhängig von seinen politischen Ansichten in diejenige Partei eintritt, die den nächsten Posten vergibt.»
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