Die Rettung eines Kindes
Erzählen Sie mir eine Weihnachtsgeschichte, bat mich mein Gast, den ich zum Bahnhof gebracht hatte. Wir warteten auf den Zug, der war zu spät, es war ungemütlich.
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Habt ihr gestritten? Foto: Kyle Johnson

Eine Weihnachtsgeschichte? Ja, etwas, wo man trotz widrigster Umstände das Glück findet. Licht, Wärme, Hoffnung, Rettung, Sie wissen schon. Und es soll mit einem Kind zu tun haben. Und wirklich passiert sein.

Hier kommt, was mir einfiel. Ein Bekannter hat es erlebt und mir erzählt. Ob es so geschehen ist, ob es übertrieben oder gar ganz erfunden ist, kann ich nicht sagen.

Er war mit seiner Partnerin in den Ferien auf einer griechischen Insel in einer Pension. Es wurde dunkel, sie hörten, wie sich im Nebenraum eine Familie einquartierte, anscheinend ein Paar mit einem Kind. Auch sie sprachen deutsch, und es wurden heftige Worte gewechselt. Mein Bekannter und seine Freundin gingen schlafen. Bis sie von Poltern und lauten Schreien geweckt wurden: Hilfe, Hilfe, es atmet nicht. Ein Arzt! Es war gegen Mitternacht.

Mein Bekannter ist kein Arzt. Er lief trotzdem hinüber, die Tür stand offen, er sah die Panik des Paares und das Kind, das ganz steif und mit schreckgeweiteten Augen auf dem Bett lag. Möglicherweise zu spät, um einen Arzt zu rufen. 

Mein Bekannter erfasste die Situation, reagierte sofort und sagte dem Paar mit ruhiger Autorität, die ihm die Notsituation eingab: «Ich bin Kinderarzt. Treten Sie bitte zur Seite und lassen mich einen Moment mit dem Kind allein.»

Das taten sie – man hört ja gern auf die Halbgötter in Weiss. Er nahm das Kind aus dem Bett in den Arm und sprach mit ruhiger Stimme auf es ein. «Ist schon gut. Alles wird gut», und solche Dinge. Der Kleine schluchzte kurz – ein Schütteln ging durch den Körper, es weinte – und atmete wieder. Mein Bekannter hielt das Kind noch ein wenig, summte etwas, liess es zur Ruhe kommen – rief die Eltern wieder hinein und gab ihnen das Kind auf den Arm. «Habt ihr gestritten?» fragte er sie. «Streitet bitte nicht mehr.» Sie waren erleichtert, sprachlos, aufgelöst.

Er ging wieder zurück in sein Zimmer, aber nicht schlafen. «Lass uns packen und abreisen», sagte er seiner Partnerin. «Sonst bekomme ich morgen Ärger.»

Tatsächlich sind sie in der gleichen Nacht noch ins Auto gestiegen und abgefahren wie Diebe in der Nacht, zurück zur Fähre, haben auf einer Bank geschlafen und sind am nächsten Morgen in aller Frühe abgereist. 

Warum glaubst du, dass du Ärger bekommen hättest, hatte ich ihn gefragt. «Naja, juristisch nennt man es Anmassung medizinischer Sachkunde, das ist strafbar.» Aber du hast doch das Kind gerettet. «Das stimmt, aber wie weit ihr Dank reichte oder ob sie nachher merkten, dass sie selbst mit ihrem Streit das Leben ihres Kindes gefährdet hatten… Als derjenige, der ihnen das gesagt hat, hätte das leicht gegen mich ausgehen können. Ich bin ja auch noch ein Mann, und du weisst, was sich Menschen vorstellen, wenn ein Mann mit ihrem Kind allein sein will. Ich würde das normalerweise auch nicht fordern.»

Der Zug kam. Die Geschichte war vorbei. Was hätte man mehr erwarten können: eine Geschichte mit Rettung, Hoffnung, einem Kind. Wir verabschiedeten uns. In mir rumoren ein paar Fragen. Zunächst: Ist es wirklich so passiert? Und: Beruhigt sich ein Kind wirklich, wenn es von einem Fremden in den Arm genommen wird? 

Ich weiss es nicht. Was ich aber aus eigener Erfahrung weiss, ist, dass manche Situationen so dicht sind, dass alle Beteiligten nur noch ihren automatischen Reaktionen folgen. Sie können allein eine schwierige Situation kaum beenden. Es braucht dann Hilfe von aussen. Rettung. So entstand glaube ich der Glaube an Engel.

Manchmal müssen wir uns gegenseitig Engel sein. Mein Bekannter konnte diese Rolle einnehmen. Und jetzt kommt meine eigentliche Frage: Woher hatte er die Kraft, in diesem Moment so entschlossen und ungewöhnlich und selbstvergessen zu handeln? Was sagte ihm, was jetzt zu tun war - innerhalb von Millisekunden?

Natürlich die Notsituation. Vielleicht gibt es ja tatsächlich Engelskräfte, wenn man sie wirklich braucht und ruft. Und vielleicht hat der Schutzengel des Kindes die Engelskräfte seiner Umgebung gerufen - und diese haben meinen Bekannten den Impuls gegeben, so zu handeln, wie er es getan hat. Vielleicht war es ja auch der Schutzengel dieses Paares, das in seiner Streitdynamik unbedingt Hilfe von aussen brauchte. Das ist wirklich eine Weihnachtsbotschaft. 

Was aus dem Kind geworden ist, weiss ich nicht. Auch nicht, ob das Paar seinen Streit beilegen konnte, ob es vielleicht nach dem Erlebnis am Bett des Kindes sass, ihm beim Einschlafen zusah und die Liebe zueinander wiederfand. Vielleicht hätten sie sich ja doch noch bedankt hätten für ihren Engel. Das wissen wir nicht. Nur, dass sie eine zweite Chance bekommen haben.

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
terra-nova-podcast-1.podigee.io.  
Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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