Diplomatie von unten
Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verschlechtert sich beinahe täglich. Die europäischen Regierungsvertreter sprechen mittlerweile ganz offen von Krieg gegen Russland. Auf dem politischen Parkett sind keine Bemühungen von Diplomatie zu erkennen. Diplomatie bleibt dem Bürger überlassen. Aus diesem Grund besuchte eine Gruppe Studenten gemeinsam mit der Gesellschaft für deutsch-russische Freundschaft die russische Botschaft in Berlin.
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Unter den Linden 63 – 65 ist nicht irgendeine Adresse. Die Russische Botschaft in Berlin, Foto: Jörg Zägel / Wikipedia

Der 28. Oktober 2025 ist ein trüber Dienstag. Eine graue Decke hängt über der Bundeshauptstadt Berlin, aus der es mit nur kurzen Unterbrechungen regnet. Auf dem Gehsteig Unter den Linden drängt sich eine Gruppe von knapp 20 zumeist jungen Menschen. Sie stehen am Gitterzaun, hinter dem sich in einigen Metern Abstand ein Gebäude von dezentem Prunk erhebt, dem Jugendstil nicht unähnlich. Unter den Linden 63 – 65 ist nicht irgendeine Adresse. Hier liegt die russische Botschaft, eine von zwei noch geöffneten, diplomatischen Vertretungen der Russischen Föderation in Deutschland. Sie ist das Ziel der kleinen Gruppe.

Dieses Treffen kam durch die Vermittlung der Gesellschaft für deutsch-russische Zusammenarbeit zustande, die ebenfalls vor Ort vertreten ist, auf Einladung des Botschafters Netschajew persönlich. Vorausgegangen war ein Online-Gespräch mit ihm, das die Notwendigkeit eines persönlichen Austausches erkennbar werden liess. 

Torsten Rexin, stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für deutsch-russische Freundschaft, erklärt, gefragt nach seiner Motivation, diesen Besuch mit jungen Menschen zu organisieren: «Die deutsche und die russische Jugend macht sich zurecht Sorgen über die Zukunft im gemeinsamen europäischen Haus. Bald werden diese Studenten die Entscheider sein. Wie soll das in Europa funktionieren, wenn wir den grössten europäischen Nachbarn nicht kennen? Wir halten es für befremdlich, dass es derartige Gesprächsformate zwischen der Jugend Deutschlands und Russlands seit fünf Jahren nicht mehr gibt. Das bestätigte uns der Vertreter der russischen Botschaft Alexander Miljutin. Insbesondere mit Blick auf die tausendjährige, wechselvolle Geschichte dieser Völker untereinander halten wir es für unverantwortlich, dass wir junge Menschen aus Deutschland nicht realistisch über das Leben in Russland informieren. Derzeit begegnen sich Deutsche und Russen mit einer familiären und gewachsenen freundschaftlichen Bindung. Vornehmlich also ältere. Wir als Gesellschaft finden es ganz besonders wichtig, junge Menschen ohne jegliche Erfahrungen in den Beziehung zu den Völkern Russlands mit den realistischen Verhältnissen in Russland vertraut zu machen.»

Zu diesem Zweck ist es nur folgerichtig, Studenten zu einem Treffen in der Botschaft einzuladen. Nicht alle anwesenden Studenten sind in Berlin ansässig. Der grössere Teil kommt von ausserhalb, hat teilweise eine mehrstündige Anfahrt auf sich genommen, um an diesem Termin teilzunehmen. 

Warum dieser Aufwand? «Ich möchte durch kritische Fragen und unvoreingenommenes Zuhören ein besseres Verständnis der russischen Sichtweise entwickeln, denn nur so ist Frieden möglich», erklärt einer der Teilnehmer, der – wie alle hier – nicht namentlich genannt werden möchte. Denn das Treffen ist, dessen sind sich alle Anwesenden bewusst, vor dem politischen Hintergrund der Bundesrepublik heikel. Während die Regierung alles daran setzt, den Konflikt mit Russland zu eskalieren, kann ein Besuch bei der russischen Botschaft schnell als Verrat aufgefasst werden. Doch anscheinend halten es diese jungen Menschen für notwendig. 

Ein anderer Teilnehmer drückt es offener, drastischer aus: «Die Politik meines Staats tut effektiv alles, um eine Eskalation mit Russland bis zum Krieg weiter zu provozieren. Das halte ich für einen Wahnsinn, der darum auf keinen Fall in meinem Namen gegen mein existenzielles Interesse und meine moralischen Überzeugungen ausgeübt und fortgesetzt werden darf. Dafür muss das durch die Kriegspropaganda erzeugte Bild von Russland im öffentlichen Bewusstsein unbedingt korrigiert werden. Für mich bedeutet das, genau die Beziehungen mit Russland auf allen möglichen Ebenen individuell und zivilgesellschaftlich wieder aufzubauen, die von der Politik mutwillig und absichtsvoll verhindert werden. Die Dämonisierung Russlands im öffentlichen Bewusstsein muss unbedingt durch eigene Erfahrungen korrigiert werden.» 

Diese Motivation wird von allen Teilnehmern geteilt. Überwiegend ist von einer Verständigung die Rede, einem Austausch mit echten Russen, um das mediale Zerrbild zu differenzieren. 

Wenn Bundeskanzler Friedrich Merz erklärt, dass Deutschland sich «nicht mehr im Frieden» mit Russland befinde, könnte man erwarten, dass auch der Botschafter und seine Mitarbeiter sich im Feindesland wähnen. Beim Einlass deutet jedoch nichts darauf hin. Es gibt kein sichtbares Wachpersonal. Einzig ein freundlicher Mann führt eine Taschenkontrolle durch, es werden die Personalien der Anwesenden überprüft. Alle haben sich zuvor namentlich angemeldet. Die Überprüfung ist also nicht mehr als das Abhaken einer Namensliste nach Vorzeigen des Personalausweises. Dann treten sie in das Foyer der Botschaft. 

Empfangen werden sie hier von zwei jungen Diplomatinnen der Pressestelle und der politischen Abteilung und erhalten eine kleine Führung durch die Botschaft. Die Diplomatinnen erzählen, dass die Botschaft schon seit den 1830er Jahren besteht. 1942 wurde sie geschlossen und von den Nationalsozialisten besetzt. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete fand hier seine Unterkunft. 1945 wurde das Gebäude – wie der ganze Strassenzug – in Trümmer gebombt. An seine Stelle trat ein prunkvoller Bau, den man der stalinistischen Ära der Sowjetunion nicht zutrauen würde. 1952 wurde die neue Botschaft eröffnet. Es ist auch heute noch die grösste, russische Botschaft in Europa. So wird die kleine Gruppe durch die offiziellen Räumlichkeiten der Botschaft geführt – das ganze Gebäude bekommt sie dabei nicht zu sehen. 

Aus den Ausführungen der beiden jungen Frauen geht hervor, wie wichtig der russischen Föderation die Verständigung mit Deutschland ist, wie wichtig Deutschland für Russland ist. Vor dem Hintergrund der deutsch-russischen Geschichte und den vielen Millionen Opfern, welche der zweite Weltkrieg allein auf russischer Seite gefordert hat, scheint Russland daran gelegen, diese Vergangenheit unter keinen Umständen zu wiederholen. So kann zumindest die Worte der beiden Frauen verstehen. 

Im Spiegelsaal, in dem auch Bälle stattgefunden haben – bevor das deutsch-russische Verhältnis frostiger wurde – trifft die kleine Gruppe auf Botschaftsrat Alexandr Miljutin. Bei Kaffee, Tee und russischen Süssigkeiten sitzen sie an einer langen Tafel Miljutin, den beiden jungen Frauen, sowie Diplomaten und Diplomatinnen der politischen Abteilung und der Wirtschaftsabteilung gegenüber. Dann beginnt der Austausch. Das Gespräch ist weit weniger förmlich, als man wohl erwarten würde. Die anfängliche Zurückhaltung auf beiden Seiten legt sich nach einem kurzen, gegenseitigen Abtasten etwas.

Zur entspannten Atmosphäre trägt wohl auch bei, dass es kein Protokoll, das abgearbeitet wird, keine Floskeln, die vorbereitet wurden, gibt. Die russische Seite scheint nicht an hohlen Worten und Förmlichkeiten interessiert, sondern an den Ansichten der jungen Menschen. Dazu stellt Miljutin eine offene Frage in den Raum: «Wie sehen Sie Russland?» Die Antworten der jungen Menschen sind von zurückhaltendem Respekt, erwähnen die russische Kultur, klassische Musik und Literatur. Einige der Anwesenden haben Verwandtschaft in Russland. Viele zeigen Interesse daran, Land und Leute kennen zu lernen. Nur wenige waren überhaupt schon einmal dort. 

Schnell wird deutlich: Beiden Seiten ist an einem Austausch und guten Beziehungen gelegen. Miljutin und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter scheinen beinahe etwas verlegen im Angesicht der aktuellen, politischen Situation.  Miljutin betont, dass Deutschland und Russland historisch eng miteinander verbunden sind. Während der europäischen Monarchien haben russische Zaren auch deutsche Prinzessinnen geheiratet, einige Zaren haben Deutschland häufig besucht. Dass die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sich nach dem zweiten Weltkrieg lange Zeit positiv entwickelt haben, sei vor allem ein Verdienst der DDR gewesen. Obwohl der Trend heute sei, die DDR zu verteufeln, so spiele sie eine wichtige Rolle bei der Heilung der tiefen Wunden, die der Krieg geschlagen habe. 

Angesichts der heutigen schlechten Beziehungen und der Spannungen wirkt Miljutin geradezu ratlos. Eine Eskalation sei jederzeit möglich, warnt er. Es fehlten nur wenige Schritte für das Entfachen eines grossen Krieges in Europa. 

«In der Vergangenheit war bereits die Lieferung von Waffen an einen Feind Grund genug, den Krieg zu erklären.» führt er aus. «Wir haben daher bisher viel Geduld gezeigt.»  Schulterzuckend fährt er fort: «Wir werden auch weiterhin geduldig sein. Aber jede Geduld hat irgendwann ein Ende.» Es klingt weniger nach einer Drohung als einer Feststellung, in der aber die Hoffnung mitschwingt, dass es so weit nicht kommen muss.  

Immer wieder betont die russische Seite ihre Offenheit für Austausch und Verständigung. Diese, so erklärt Miljutin, müssen nicht in der Botschaft stattfinden. «Ladet uns ein,» bietet er an, «wir kommen gern.» 

Interesse am Austausch haben aber nicht nur die Anwesenden. Mittlerweile kämen zwei Mal pro Woche kleinere Gruppen von Menschen in die Botschaft. Das Interesse an Diplomatie und Verständigung scheint grösser zu sein, als es in den Medien dargestellt wird. Denn das medial mühevoll aufgebaute Feindbild des Russen zerbricht bei der persönlichen Begegnung meist schnell. Hier wird der bösartige Russe zu einem Menschen, der trotz seines kulturell und sprachlich anderen Hintergrunds sich im Grossen und Ganzen nicht von den Europäern unterscheidet – auch, wenn deutsche Politiker in Talkshows behaupten, der Russe sei kein Europäer. Was manchmal fast so klingt wie: und eigentlich auch kein Mensch.

Doch trotz des medialen und politischen Klimas machen auch die diplomatischen Mitarbeiter in Deutschland durchweg positive Erfahrungen. Keiner der Anwesenden hat etwas Negatives über die Begegnung mit Deutschen im persönlichen, privaten Leben zu sagen. 

Für eine Verständigung der Völker hält Torsten Rexin es für wichtig, Land und Leute kennen zu lernen. Reisen nach Russland werden von der EU allerdings zunehmend erschwert. Der russische Staat ermöglicht unter der Überschrift «Discover Russia» die Erkundung Russlands, wie die junge Frau von der Presseabteilung erzählt. Die Kosten würden dabei übernommen, und auch um ein Visum müsse man sich nicht selbst kümmern. 

Alles in allem gibt es dem Eindruck des Botschaftspersonals nach viele vereinzelte Gruppen und Einzelpersonen in Deutschland, denen an einem guten Verhältnis zu Russland gelegen ist. Eine Bündelung dieser Kräfte könne viel bewirken, erklärt Miljutin. Wenn jeder mit seinem Umfeld kommuniziere und dem Feindbildaufbau etwas entgegensetze, dann sei schon etwas getan. 

Hier wird deutlich: Auch geschulte Diplomaten verfügen nicht über Wundermittel. Wie die Deutschen stehen sie der politischen Eskalation, die auf höchster Stufe betrieben wird, eher ratlos gegenüber. In dem Gespräch zeigt sich aber auch: Ob Deutsche oder Russen, ob Diplomaten oder Zivilpersonen, alle sitzen im selben Boot. Zumindest die Anwesenden sind sich einig, dass dieses Boot nur gemeinsam gesteuert werden kann. Torsten Rexin kündigt daher an, weitere, regelmässige Gesprächsformate initiieren zu wollen.

«Es ist ein Privileg der Jugend, sich unvoreingenommen und auch kritisch anderen Gesellschaften zu nähern und ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Das wollen wir ermöglichen, und aus diesem Grund haben wir die Absicht, diese Treffen auch weiterhin zu organisieren», erklärt er nach dem Besuch in der Botschaft.

Einer der Studenten schlussfolgert: «Alles in allem war das Treffen ein Erfolg. Es kann als Auftakt gesehen werden für weitere Treffen der öffentlichen Diplomatie.» 

Das Gespräch dauert etwas über eine Stunde. Dann wartet ein Termin im Russischen Haus, das unweit der Botschaft liegt. Draussen ist es bereits dunkel, leichter Regen nieselt in den Strassen. Doch stehen vor dem Eingang zwei Frauen, die ukrainische Fahnen schwenken. Eine Mahnwache, die, so Rexin, jeden Tag stattfindet. 

Im Russischen Haus selbst wird den jungen Menschen die Ausstellung zum 40 jährigen Jubiläum des von der DDR-Regierung Russland geschenkten Gebäudes gezeigt. Originaldokumente und Fotos zeichnen die Geschichte des Hauses und damit des deutsch-russischen Verhältnisses nach. Da nicht die Zeit für eine vollständige Führung durch das immerhin sieben Stockwerke umfassende Haus bleibt, wird im Kinosaal ein kurzer Film gezeigt, der das vielfältige Angebot des Hauses präsentiert. Dieses erstreckt sich über Filmvorführungen, Sprachunterricht, Ballettstunden bis hin zu Kunstkursen. 

Nach dem Film führt Grigori Miktitariantes, im Haus zuständig für Bildung, die Möglichkeiten von Stipenden aus, die über das russische Haus zu erhalten sind, um in Russland zu studieren. Jedes Jahr werden 50 davon vergeben, in den letzten Jahren jedoch hauptsächlich an Deutsch-Russen und Kinder von Spätaussiedlern. Das Interesse der Deutschen sei zurückgegangen. Nicht nur Moskau und Sankt Petersburg seien lohnenswerte Studienorte. Andere Städte eignen sich vielleicht sogar noch besser zum Leben. So sei Kasan ein positives Beispiel für gelebte Vielfalt in Russland. Hier leben Muslime und orthodoxe Christen in Harmonie zusammen. 

Wie schon der Besuch in der Botschaft ist auch der Abstecher ins Russische Haus und die Unterredung mit Miktitariantes eigentlich zu kurz: ein erstes Kennenlernen zwischen Jugend und Vertretern der russischen Politik und Kultur, eine Annäherung zwischen einem Teil der Zivilgesellschaft Deutschlands und Russlands. Der Raum für weitergehende, offene Gespräche fehlte, sowohl in der Botschaft, als auch im Russischen Haus. 

Kritisch kann man einwenden, dass für echte Verständigung und Austausch Treffen zwischen Gruppen auf derselben Ebene stattfinden müssen. Dem russischen Botschaftspersonal müsste also eine Delegation deutscher Offizieller gegenübersitzen. Doch wenn solche Treffen nicht stattfinden, die offizielle Linie des Bundesrepublik vielmehr in Richtung Eskalation und Krieg weist, wer sonst soll die Vakanz der Diplomatie füllen, wenn nicht der von den Entscheidungen der Politik direkt betroffene Bürger?

Die kurze Begegnung öffnet zudem den Raum für mehr: Austauschprogramme und Reiseangebote bieten die Möglichkeit, die Verständigung zu vertiefen – ein Nährboden, auf dem Frieden und Freundschaft entstehen können. Vor diesem Hintergrund nähren Begegnungen und Gespräche wie jene, die an diesem 28. Oktober stattfanden, die Hoffnung auf Frieden und Freundschaft. 
 

Felix Feistel

Felix Feistel

Felix Feistel, Jahrgang 1992, studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Völker- und Europarecht. Schon während seines Studiums war er als Journalist tätig; seit seinem Staatsexamen arbeitet er hauptberuflich als freier Journalist und Autor. So schreibt er für manova.news, apolut.net, die Freie Medienakademie sowie auf seinem eigenen Telegram-Kanal. Auf Substack(https://substack.com/@felixfeistel?) schreibt er für eine internationale Leserschaft. Eine Ausbildung zum Traumatherapeuten nach der Identitätsorientierten Psychotraumatheorie und -therapie (IoPT), erweiterte sein Verständnis von den Hintergründen der Geschehnisse auf der Welt.

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