Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

© chabis-chäs.ch

Ein Mann aus Uster macht einen guten Job. Zusammen mit einem Team von Freiwilligen rettet er seit Jahren Lebensmittel. Er gibt sie gratis oder sehr günstig ab und versteht seine Arbeit als eine Aktion gegen Food Waste. Auf diese Weise kann er jährlich 400 Tonnen Lebensmittel vor dem Wegwerfen retten.

Nun hat er kürzlich von einem Käseproduzenten aus Überproduktion Käse erhalten – nicht etwa nur ein paar Kilogramm, sondern Tonnen. Drei Tonnen. Es handelt sich um Chili-Raclette-Käse, dessen Mindestverfallsdatum gerade erst abgelaufen ist. Dazu erhielt er noch 600 Kilo zu viel produzierten Joghurt. So viel hat er noch nie erhalten. Drei Tonnen Käse, das sind 30’000 Packungen Raclette à zehn Scheiben. 30‘000 Packungen – man muss sich das räumlich vorstellen.

Günthard hat das Überangebot in Uster für den Spottpreis von 5 Franken pro 3 Kilo Raclette zum Verkauf angeboten, und innert vier Tagen waren die ganzen drei Tonnen weg. So einen Ansturm hat er noch nie erlebt. Sogar aus anderen Kantonen sind die Kunden gekommen, um den billigen Käse zu hamstern. Von einigen, die zu spät kamen, wurde Günthard sogar noch beschimpft, weil sie ihre Aktionsgier nicht stillen konnten.

Warum hat mir diese Meldung zu denken gegeben? Eigentlich ist es doch eine ehrenwerte Sache, dass man Lebensmittel aus Überproduktion nicht fortwirft, sondern verwertet. Aber darum geht es mir nicht. Viel bedenkenswerter scheint mir die Frage: Wer hat denn diese drei Tonnen Käse produziert? War das der Käseproduzent? Nein, es waren Tiere. Es waren die Kühe, deren Milch für den Käse genutzt worden ist. Dass die Kühe als Nutztiere bezeichnet werden, ist genau das richtige Wort – denn sie werden von uns genutzt und benutzt in einem Mass, das uns im Grunde beschämen müsste.

Wenn eine Kuh einmal pro Jahr ein Kälbchen gebärt, gibt sie danach jeden Tag Milch. Nach dem ersten Kalb sind es bis zu 25 Liter pro Tag, nach dem dritten Kalb 35 Liter – während sie vor 100 Jahren pro Tag nur 5 Liter gab. Eine Kuh ist aber immer noch mehr oder weniger gleich gross. Trotzdem wird bis zu 7 Mal mehr Milch aus ihrem Euter gepresst – und die Zahlen der Milchindustrie sind vielleicht sogar noch beschönigt.

Eigentlich hätte die Kuh eine natürliche Lebensdauer von 15-20 Jahren. Aber nach spätestens sieben Jahren liefert sie keine genügende Milchleistung mehr. Sie ist ausgebrannt und endet zum Dank für die geleistete Fronarbeit im Dienste der Menschen im Schlachthaus.

Ihr ganzes kurzes Leben lang ist eine zeitgenössische Kuh im Grunde nichts besseres als eine Milchproduktionsmaschine, denn wir holen aus den Kühen nicht nur heraus was wir brauchen, sondern wir pressen sie aus bis aufs Blut.  Wir pressen sie so sehr aus, dass am Schluss sogar noch drei Tonnen Käse übrig bleiben. Die Fabrikarbeiter vor 150 Jahren, die haben von Montag bis Samstag geschuftet für einen Lohn, der nur knapp zum Versorgen einer Familie gereicht hat. Diese Schinderei wurde Ausbeutung genannt, aber dasselbe tun wir noch heute – heute erst recht – mit den Kühen. Wir beuten sie gnadenlos aus. Es ist ein Verbrechen. Es ist fortgeschrittene Tierquälerei, die hart bestraft werden müsste.

Aber sie wird nicht bestraft. Die meisten Menschen finden es im Gegenteil völlig natürlich, dass wir den Kühen die Milch wegnehmen. Viele andere unter uns, die das mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, ernähren sich deshalb vegan. Ich selber schaffe es nicht bis hinauf zum veganen Olymp – zu sehr liebe ich Käse frisch von der Alp, Vermicelles mit Schlagrahm und griechischen Joghurt. Aber ich bin den Kühen dankbar. Ich bin Ihnen dankbar, dass sie uns so brav und ohne Murren ihre Milch geben.

Der frühere Brauch des Tischgebets war ein schöner Brauch, den wir wieder aufleben lassen sollten. Aber eigentlich und vor allem, wenn es um Milchprodukte geht, müsste man nicht dem lieben Gott danken. Wir müssten den Kühen danken. Wir müssten ihnen jeden Tag vor dem Essen danken, dass sie viel menschenfreundlicher sind, als wir es jemals verdienen würden – weil sie uns täglich von neuem ihre kostbare Muttermilch schenken

Dieser Text erschien im Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Gedanken, Beobachtungen, Geschichten - täglich von Montag bis Freitag auf Spotify, iTunes oder auf der Website des Autors www.dieluftpost.ch

Aktuell aus 
«DER KAMPF MIT DEM CHRISTBAUM»
, Adventgeschichten & Christmas Carols mit Nicolas Lindt und Peter Glanzmann,
 dem virtuosen Gitarristen von «Les Sauterelles».

Anschliessend Veganes Buffet – Kollekte am Schluss

Samstag, 3. Dezember, 17 h – Yogazentrum Ganapati
, Tösstalstrasse 16, 8400 Winterthur 

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

Weitere Bücher von Nicolas Lindt

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