Ein freies Stück Land
Ein Vorgang, der sich überall, landauf landab wiederholt. Täglich und unerbittlich: Wenn die Bagger auffahren. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Oberhalb unseres Dorfes gibt es ein kleines Quartier mit ein paar älteren, in den gleichen Jahren entstandenen Eigenheimen. Die Siedlung ist zum Berg hin begrenzt durch ein Waldstück, zum Tal hin durch Wiesland. Direkt vor den Häusern und ihrer Aussicht, die bis zu den Bergen reicht, befand sich ein Feld, das in früheren Jahren als Pferdekoppel benützt worden war. Ein Teil der Weide diente seither als Fussballfeld, doch der Rest blieb sich selbst überlassen. Büsche und Gräser verbreiteten sich, wilde Blumen versuchten ihr Glück, eine Feuerstelle zeugte von abendlichen Zusammenkünften am Lagerfeuer, und bereits entsprossen der Erde die ersten jungen Eschen und Birken. Die Natur begann, das Gelände still und leise zurückzuerobern, und der Mensch liess es zu.
Ein selten gewordener Anblick in unserem Land.
Mitten durch das Feld führte ein Schleichweg. Die Schüler benützten ihn auf dem Weg in die Schule, und ich selber benützte ihn gelegentlich auch.
Eines Tages prangte am Rande des Feldes eine Reklametafel, die das Land zum Verkauf anpries. Monate später stand sie, ziemlich verwittert, immer noch da. Offenbar wollte niemand das Bauland kaufen. Als der Wind die Affiche umblies, blieb sie liegen, bis sie weggeräumt wurde.
Doch dann, eines Morgens sah ich die Pfähle. Die Baupfähle.
Baugespanne sind der Anfang vom Ende. Wo Baupfähle stehen, ist die Natur nur noch geduldet. Ihre Kraft erlischt. Die Pfähle spotten dem Boden, in den man sie treibt. Sie entwürdigen ihn. Auf den Plan der Schöpfung nehmen sie keine Rücksicht. Baupfähle geben mir das Gefühl: Ich komme zu spät. Das Todesurteil steht fest.
Ein paar Tage danach lag eines der Baugespanne am Boden. Von selber war es nicht umgefallen. Das brave Quartier äusserte seinen Unmut über das Bauvorhaben. Doch der stille Protest kam zu spät. Alle hatten gewusst, dass das Land zum Verkauf stand. Die Tat war ein hilfloser Tritt ans Schienbein der Macht. Die Maschinerie der Legalität lässt sich mit blossen Händen nicht stoppen. Es vergingen keine zwei Tage, bis das umgestossene Baugespann wieder aufrecht stand. Und zuoberst auf der Stange hing des Bauherren Hut, den jedermann im Vorbeigehen zu grüssen hatte.
Nach einer Weile, wie üblich, verschwanden die Stangen wieder – und noch einmal durfte man hoffen, die Überbauung könnte sistiert sein. Vielleicht hatte sich der Investor verrechnet. Vielleicht hatte die Bank ihre Zahlungsbereitschaft zurückgezogen. Wenn das Geld fehlt, hat die Inkonsequenz eine Chance. Doch das Geld fehlt selten in unserem Land. Noch im gleichen Jahr fuhren die Bagger auf.
Meine Abkürzung über das Feld gab es nicht mehr. Wo das Weglein verlaufen war, gähnten Löcher. In die Löcher kamen die Fundamente, und darüber wuchsen die Mauern. Täglich konnte ich zusehen, wie der Bau seine Fortschritte machte. Fortschritte waren es nicht. Der Horizont wurde zugemauert. Ich sah die Autos der Handwerkerfirmen aus unserem Dorf, ich sah die Männer und grüsste sie, doch ich dachte: Wie können sie sich mitschuldig machen an diesem Werk, das kein Bauwerk, sondern ein Zerstörungswerk ist?
Würde man dies verstehen, dann würde man anders bauen. Die Wiese würde man fragen, ob man sie überbauen darf. Die Bäume würde man fragen, ob man sie fällen darf. Und die Menschen würde man fragen: Gefällt es euch, was wir bauen wollen? Dürfen wir solche Häuser bauen in eurem Quartier?
Nein, würden die Quartierbewohner erwidern. Diese Häuser wollen wir nicht. Sie nehmen uns nicht nur die Aussicht weg. Sie nehmen uns die Geborgenheit.
Das würden sie sagen. Aber niemand hat die Menschen gefragt. Sie durften die Pläne sehen. Aber sie unterschätzten die Wirklichkeit. Niemand hat die Nachbarn davor gewarnt, wie diese Häuser aussehen werden, wenn sie fertig gebaut sind.
Eigentlich sind es gar keine Häuser. Es sind Boxen. Sechs gelbgraue Boxen in Reih und Glied, drei vorne, drei hinten. Die Häuser des kleinen Quartiers haben Dächer, landesübliche Dächer, die auf den Häusern wie Hüte sitzen. Boxen jedoch haben kein Dach. Oben sind sie ganz flach. Man könnte sich fragen, wozu diese Bauten dienen: Sind es Hochsicherheitstrakte? Militärische Bunker? Trafostationen?
Es sind Häuser zum Wohnen. Das weiss ich natürlich. Es stand auf der Tafel am Strassenrand. Und gegen das Ende der Bauzeit erschienen die ersten Interessenten. Ich sah den Herrn von der Bauherrschaft, wie er mit möglichen Käufern zwischen den gelbgrauen Boxen stand und deren Vorzüge pries: den Komfort, die ländliche Lage, die unverbaubare Aussicht und – nicht zu vergessen! – die Möglichkeit, den Innenausbau mitzubestimmen.
«Gibt es auch Nachteile?» fragte ein Interessent.
«Nachteile?» wunderte sich der Herr von der Bauherrschaft. «Ich wüsste nicht welche.»
Er meinte es ernst. Er wusste nicht, dass solche Häuser eigentlich ein Verbrechen sind. Ein Verbrechen gegen das Stück Natur, das diesen Boxen zum Opfer fiel. Ein Verbrechen gegen die Menschen, die diesen Boxen ausgesetzt sind. Ein Verbrechen gegen das ganze Quartier, das ein unversehrtes Quartier war.
Doch im Strafrecht kommt ein solches Verbrechen nicht vor. Was im Rahmen des Baugesetzes geschieht, ist erlaubt. Und auch für die Interessenten, die jungen, modernen Familien sind diese Boxen keine Gewalttat. Sondern ein Traum, der sich erfüllt.
*
Inzwischen haben die Boxen ihre Besitzer gefunden. Die jungen Familien sind eingezogen und leben für den Hypothekarzins. Und die Quartierbewohner haben sich an den Anblick der Überbauung gewöhnt. In der Siedlung am Rande des Dorfes kehrt wieder Ruhe ein. So sind die Menschen. Sie passen sich an. Sie haben keine andere Wahl. Man kann nicht ständig im Widerspruch bleiben. Sonst muss man gehen.
Vor ein paar Tagen traf ich auf meinem Weg durch das kleine Quartier eine junge Frau, die ich zum ersten Mal sah. Wir unterhielten uns, und sie erwähnte, sie wohne in einem der neuen Häuser. Als wollte sie mir zuvorkommen, sagte sie:
«Die Lage hier oben ist wirklich schön. Die Aussicht ist unbezahlbar. Wir hatten Glück. Aber ich muss es gestehen: Die Häuser gefallen mir überhaupt nicht.»
Und sie fügte hinzu: «Wenn ich wählen könnte, würde ich anders wohnen, ganz anders. Am liebsten in einem Blockhaus. In einem echten kanadischen Blockhaus.»
Das sagte sie. Die wirklichen Träume der Menschen liegen jenseits der Boxen, in denen sie wohnen.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Vom Autor soeben erschienen:«Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli
Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch
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