Ein Mann auf der Flucht
Zwei Tage nach Weihnachten vor 12 Jahren wurde in Fischenthal eine Frau überfahren. Der Verursacher des tödlichen Unfalls flüchtete. Gedanken im Advent über Schuld und Sühne. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben»
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Bildlegende: Fischenthal ZH, Tösstalstrasse – der Unfallort. Und der Tatort. (Bild NL)

Ich fahre oft dort vorbei. Und vor ein paar Tagen dachte ich wieder daran. Vielleicht, weil bald Weihnachten ist. Und weil ich in Erinnerung habe: Es geschah in der Weihnachtszeit.

Zwölf Jahre sind seither vergangen. Ich versuchte mir damals ein Bild zu machen. Ein Bild von ihm. Was er wohl für ein Mensch ist. Wie er sich danach fühlte. Ob er überhaupt etwas spürte. Ich war sicher, dass er allein lebt. Und ich dachte ans neue Jahr, das nur wenige Tage entfernt war.

Was wird er wohl tun am Sylvesterabend, fragte ich mich.

Jedenfalls wird er zum Alkohol greifen. Er wird sich betäuben müssen. An diesem Abend besonders. Denn irgendwann naht die Mitternachtsstunde. Dann wird er nicht mehr verdrängen können, dass vor der Türe das neue Jahr steht. Es wird ihm freundlich empfehlen, vielleicht ein paar Dinge besser zu machen. Sich etwas vorzunehmen. Sich zu stellen zum Beispiel - als erstes, am nächsten Morgen. Zur Polizeistation gehen und gestehen:

Ich wars. Ich bin derjenige, der am Freitag nach Weihnachten, um die Mittagszeit in Fischenthal eine alte Frau überfuhr.

War es ein Mann, der am Steuer sass? Nehmen wir zugunsten der Frauen an, dass eine Frau es nicht übers Herz gebracht hätte, weiterzufahren.  Er aber, anstatt anzuhalten, drückte aufs Gas und preschte davon. Unmöglich, dass er nichts merkte. Das Opfer, die alte Frau, hatte die Strasse von links überquert. Sie wurde vom Auto erfasst und auf die Gegenfahrbahn geschleudert. Der Aufprall muss heftig gewesen sein, und der Mann am Steuer dachte nur eins: Fort. Ich muss fort.

Er floh, so wie man vor einer Gefahr flieht, kopflos und überstürzt. Doch die Gefahr war er selbst. Er raste mit mindestens achtzig zum Dorf hinaus. Und er wollte so tun, als ob es gar nicht geschehen wäre. Als ob er bloss einen Gegenstand oder ein Tier gerammt hätte. Aber die Panik, die ihn zur Flucht trieb, zeigte ihm, dass er wusste, wen der Aufprall getroffen hatte. Einen Menschen hatte er angefahren. Und dieser Mensch war jetzt vielleicht tot.

Inzwischen lag das Dorf hinter ihm. Er hätte immer noch stoppen und umkehren können, doch sein Fuss blieb auf dem Gaspedal, als könnte er nicht auf die Bremse wechseln. Die Gedanken hetzten durch seinen Kopf, doch vor allem marterte ihn die Frage, wie er dem Garagisten erklären konnte, dass infolge der Kollision der Rückspiegel weggespickt worden war. Sein Auto, ein weisser Renault Megane, wurde zum stummen, lädierten Zeugen des Unfalls. Er musste es loswerden.

Während er weiterraste, suchte er nach Entlastung. Vielleicht, hoffte er, hatte den Unfall niemand gesehen. Vielleicht hatte er Glück gehabt, und  die Verunfallte lebte noch. Es war eine Frau, er sah das Bild wieder vor sich. Eine alte Frau, die am Stock ging. Plötzlich bekam das Geschehene ein Gesicht für den Mann.

Und mit dem Gesicht kam die Schuld. Er war schuld. Er hatte die Frau übersehen, weil er bestimmt mehr als 50 gefahren war, weil die Sonne ihn blendete und er nicht aufgepasst hatte.

Aber das Schlimmste war nicht der Unfall. Er hätte anhalten, aussteigen und der alten Frau helfen müssen. Er hätte dem Rettungsdienst anrufen müssen. Stattdessen war er weitergefahren. Und je weiter er sich vom Ort des Unfalls entfernte, umso unmöglicher wurde ihm eine Umkehr.

Der Flüchtende hatte Angst. Er befürchtete, dass die Polizei ihn verfolgen könnte, auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich war. Doch er schlug einen anderen Weg ein, um sicher zu sein. Er überlegte jetzt nur noch, wie er es anstellen musste, damit er davonkam. Das war sein einziges Ziel. Davonkommen. Sich in seinem Leben verstecken. Und er versuchte sich zu beruhigen, indem er sich wieder und wieder sagte: Ich habe es nicht gewollt. Es war ein Unfall.

Doch seine Fahrerflucht war kein Unfall. Sie sass dem Täter im Nacken und liess ihn nicht los. Die Tage vor Sylvester wurden zur Hölle. Einmal hörte er jemandem sprechen über den Unfall. Und er hörte ihn sagen: Was für ein Feigling. Überfährt eine 77jährige Frau und verzieht sich.

Ein Feigling. Was für ein Schlag in das Gesicht eines Mannes.

Aus den Medien hatte er inzwischen erfahren, dass die Frau an den Folgen des Unfalls gestorben war. Nach dem flüchtigen Fahrer werde gefahndet.

Dieser flüchtige Fahrer war er, polizeilich gesucht und ausgeliefert einem Verschulden, das er mit niemandem teilen konnte. Immer wieder in den Tagen danach wollte er sich jemandem anvertrauen, um sich vom Druck zu befreien, der ihm die Brust beinahe zerdrückte. Doch alle hätten sie gleich reagiert:

Stell dich. Geh zur Polizei. Niemand wäre bereit gewesen, ihn freizusprechen. Für die Schuld an einem tödlichen Unfall gibt es die Hoffnung auf ein Verzeihen. Doch Fahrerflucht kennt keine Verjährung.

Es gab eine Stimme in ihm, die ihn drängte, seine ganze gebrochene Willenskraft zusammenzunehmen und sich doch noch zu stellen. Immer, wenn er sein Handy zur Hand nahm, war er versucht, es zu tun. Er begann das Gerät zu hassen, weil es ihn ständig daran erinnerte, was das Leben von ihm erwartete. Einmal war er nahe dran, den Damm des Schicksals zu brechen. Er wählte die Nummer. 117. Drei Zahlen – und er hätte wiedergewonnen, was ihm geraubt worden war: den Stolz auf sich selbst. Doch er stoppte den Vorgang. Sein Mut war zu klein und die Angst zu gross.

Wenn ich mich melde, befürchtete er, wird nichts mehr bleiben wie vorher. Ich werde verurteilt werden und immer derjenige sein, der aus Fahrlässigkeit eine unschuldige alte Frau überfuhr.

*
Der Morgen brach an, der erste Morgen im neuen Jahr. Doch der Wille des Mannes blieb wie gelähmt. Mit verkrampftem Herzen liess er die Chance des Neubeginns an sich vorbeigehen. Stattdessen versuchte er weiterzuleben. Er kämpfte sich durch den Tag, durch die Woche, er kämpfte sich durch die Monate. Doch seine Hoffnung, das Leben könnte wieder so werden wie vorher, zerschlug sich jeden Tag neu. Denn die Lüge wurde nun seine permanente Begleiterin, die Lüge darüber, was am 27. Dezember geschehen war.

Auch ein Jahr später hat er sich nicht gemeldet. Auch zwei Jahre später nicht.

600 Fahrzeuge vom Typ Renault Megane, Farbe weiss, und mit ihnen auch ihre Besitzer waren im ganzen Kanton überprüft worden. Ohne Erfolg. 5’000 Franken Belohnung versprach die Kantonspolizei für Hinweise zur Ergreifung des Täters. Ohne Ergebnis.

*
Am 27. Dezember jährt sich der Unfall zum zwölften Mal. Wäre der Täter aufgespürt worden oder hätte er sich gestellt, dann wäre ein Gerichtsverfahren eröffnet worden, und man hätte davon erfahren. So aber müssen wir annehmen, dass der Fahrerflüchtige immer noch unter uns lebt. Die Akte Fischenthal ist deshalb immer noch offen. Aber sie könnte geschlossen werden. Der Mann, der vor seiner Verantwortung floh, hat sich damit schon selber verurteilt. Er braucht keine Strafe mehr. Aus dem Gefängnis seiner Schuld kommt er nie mehr heraus.

Es sei denn, er wählt 117. Und bleibt am Apparat.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch


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