Louise Perrys Buch war ein Überraschungserfolg in England. Dass ihre Hauptaussage, wonach die sexuelle Revolution – möglich geworden durch die Pille - unendlich viele Nachteile für Mädchen und Frauen mit sich brächte, tatsächlich auf solch ein grosses Interesse stossen würde, hielt wohl keiner für möglich. Zumal sie nicht nur gegen Prostitution und Porno-Kultur zu Felde zieht. Sie legt sich mit der These an, wonach mehr Freiheit immer mehr Glück bedeutet, und plädiert dafür, auch die Bedürfnisse nach Bindung und gegenseitiger Verantwortung ernst zu nehmen.
Eine relativ sichere Verhütungsmethode wie die Pille war für viele Frauen wohl eine Erlösung. Endlich konnten Frauen Sex haben, ohne Angst haben zu müssen, dadurch schwanger zu werden. Die Einführung legaler Abtreibungsmöglichkeiten, falls doch etwas schief gegangen war, gab den Frauen noch mehr Sicherheit: Eine sexuelle Beziehung konnte nicht mehr dazu führen, ihr Leben bei einem illegalen Abtreibungsversuch zu verlieren oder ein ungewolltes Kind aufziehen zu müssen.
Rundum gute Nachrichten also für Frauen? Diese Sichtweise stellt Louise Perry in Frage. Während Sex in Zeiten vor der Pille meist nur in festen Beziehungen stattfand, haben sich die sexuellen Normen mit ihrer Einführung verschoben. Massiv. Pornographie und Prostitution explodierten. Aus der Möglichkeit, vor der Ehe Geschlechtsverkehr zu haben, wurde der Anspruch. In den siebziger Jahren stigmatisierten Männer Mädchen als frigide, wenn sie keine Lust hatten, die Beine für sie breit zu machen. Heute ist es völlig üblich geworden, beim ersten oder spätestens zweiten Tinder-Date im Bett zu landen. Denn wo soll denn da bitte das Problem sein? Frauen die da nicht mitmachen, werden als seltsam angesehen.
Aber, so Perry, Männer und Frauen sind unterschiedlich. Nicht nur körperlich, sondern auch in ihren Bedürfnissen. Männer haben ein deutlich höheres Gewaltpotenzial und im Durchschnitt ein sehr viel grösseres Interesse an Gelegenheitssex mit wechselnden Partnerinnen als Frauen. Quer durch alle Kulturen. Perry geht davon aus, dass diese Unterschiede nicht anerzogen, sondern über lange evolutionäre Prozesse entstanden sind. Frauen konnten über Jahrtausende durch Sex schwanger werden. Sie wollten sicher sein, dass ihr Partner eine feste Bindung an sie hat und sie bei der Aufzucht des Nachwuchses unterstützen würde. Frauen, die wählerisch waren, hatten genau wie ihre Kinder eine deutlich bessere Überlebenswahrscheinlichkeit als Frauen, die weniger zurückhaltend waren. Ein natürlicher Selektionsprozess hin zu sexuell zugeknöpften Frauen setzte ein. All die Statistiken, die sie anführt, brauchen Leute, die sich mal im echten Leben umgeschaut haben, vermutlich nicht: Die meisten Frauen wünschen sich körperliche Intimität mit einem Mann nur dann, wenn sie auch eine seelische Beziehung zu ihm haben.
Bei Männern war (und ist) das anders: Um ihre Gene so weit wie möglich zu verbreiten, konnten sie entweder versuchen, mit so vielen Frauen wie möglich Sex zu haben, ohne sich um die Aufzucht der Kinder zu kümmern. Oder sie konnten sich fest an eine Frau binden und mit ihr die gemeinsamen Kinder aufziehen. Das erhöhte die Überlebenschancen der Kinder erheblich, führte aber dazu, dass Männer eifersüchtig darüber wachten, dass es wirklich ihre eigenen Kinder waren, die sie da aufzogen. Kurzum: viele Schlampen zur sexuellen Befriedigung und die eine Heilige zum Heiraten.
Perry führt aus, dass weiter und immer noch weiter gelockerte Sexualnormen im Wesentlichen Männern und deren Interesse dienen und an den Bedürfnissen von Frauen gründlich vorbei gehen. Frauen zu erklären, sie seien Girl-Bosse und sollten im Sinne der Frauenbefreiung «Ficken wie ein Mann», nützt männlichen Interessen, nicht weiblichen. Sie wendet sich auch dagegen, dass alles okay ist, solange die Frau nur «zugestimmt» hat, und plädiert für einen würdevollen Umgang miteinander. Den neuen sich ausbreitenden Praktiken mit degradierenden Handlungen wie Würgen oder vielen anderen plastisch beschriebenen, erteilt sie eine deutliche Absage.
Frauen, so die Autorin, seien die Verliererinnen der sexuellen Revolution. Natürlich lehnt sie Verhütungsmethoden trotzdem nicht ab. Aber sie plädiert dafür, Sex wieder wichtig zu nehmen, nicht als eine emotionslose Freizeitbeschäftigung. Denn darunter würden Frauen deutlich leiden. Sie schliesst ihr Buch mit dem Satz: Es wird Zeit, endlich nein zu sagen.
Das wirklich Neue an diesem Buch ist, dass es nicht von christlich-rechten oder überhaupt moralischen Vorstellungen ausgeht, sondern von der Frage, welche Art von Sexualethik weiblichen Interessen entgegenkommt. Und darüber wirklich tief nach- und weiterdenkt. Um dann bei monogamen Beziehungen – am besten in Form einer Ehe – zu landen. Das ist schon sehr – sagen wir mal verblüffend.
Noch überraschender als das Interesse an ihrem Buch an sich ist, dass es auch in feministischen Kreisen viel Rückhall gefunden hat, denn es enthält durchaus viele ketzerische Thesen. Dass Frauen anders sind als Männer, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Und das nicht anerzogen, sondern zumindest teilweise genetisch. Dass mehr Freiheit nicht immer zu mehr Glück führt. Dass monogame Beziehungen sinnvoll sind. Für die Taschenbuchausgabe hat Kathleen Stock das Vorwort verfasst, Helen Joyce empfiehlt den Kauf in warmen Worten, und sogar Julie Bindel, eine überzeugte Vertreterin des Radikalfeminismus schreibt im Klappentext:
«Die Feministinnen, die glauben, dieses Buch sei nichts für sie: Lest es. Brilliant geschrieben, intelligent argumentiert, vollgepackt mit faszinierenden Ideen und Fakten: Egal, ob man der zentralen These zustimmt, oder nicht, das Buch präsentiert frische und aufregende Ideen.» (1)
Das Buch gibt es als Taschenbuch, als Audiobook (2) oder ganz neu erschienen als Version für Teenager: «A new guide for sex in the 21st century». Dieses Buch ist deutlich kürzer, spart sich Massen von Fussnoten und Querverweisen und ist in sehr einfachem Englisch geschrieben. Insofern eignet es sich ganz gut für eine deutsche Leserschaft. Allerdings: Es nervt etwas, dass Perry Dinge erklärt, die älteren Leuten durchaus geläufig sind. Wer war Hugh Hefner? Wer war Marilyn Monroe? Da kommt man sich teilweise fast so alt vor, wie der morgendliche Blick in den Spiegel einen glauben machen will.
The Case against the sexual revolution
Von Louise Perry
ISBN-13: 978-1509550005
Louise Perry ist Anthropologin, Journalistin und Podcast-Host.
Anmerkungen
- «Those feminists who assume this book is not for them – give it a go. Brilliantly written, cleverly argued, packed with fascinating ideas and information: agree or disagree with the central premise, it is fresh and exciting.»
- Für Leute, die sich bei den englischen Feministinnen ein bisschen auskennen: Louise Perry hat ihr Audiobook nicht in einem Studio eingesprochen, da sämtliche britische Häuser den Inhalt als Anti-Woke ablehnten. Sie ist dann in Helen Joyces Waschküche ausgewichen – wo der Raum schon behelfsmässig mit Bettdecken abgehängt war, um die Tonqualität zu verbessern. Im gleichen Raum, mit der gleichen Waschmaschine als Tisch-Ersatz, hatte auch Joyce ihr wegweisendes Buch «Sex Matters» eingesprochen, für das auch sie keinen Verleger finden konnte – Bestseller hin oder her.
Kommentare
Dualismus
Was ich wirklich schade ist, dass die Autorin offensichtlich nur ein entweder/oder in Betracht zieht. Entweder monogame Beziehung oder Sex als 'emotionslose Freizeitsbeschäftigung' (Zitat). Damit wird der viel grösseren Bandbreite an Möglichkeiten überhaupt nicht genüge getan.
Bei der einen monogamen Beziehung geht es doch in erster Linie nicht um die Monogamie, sondern um die Bindung, die Vertrautheit. Die meisten Menschen haben den Wunsch nach beständigen Beziehungen, aber gleichzeitig auch das Verlangen nach prickelnden Abenteuern und Schmetterlingen im Bauch. Uns wird sehr früh beigebracht dass man halt nicht alles haben kann. Aber wieso denn nicht?
Feste Beziehung und gelegentliche Begegnungen (und auch da muss Sex dann nicht emotionslos sein), vielleicht zwei feste Beziehungen oder drei?
Louise Perrys Buch ist vielleicht tatsächlich lesenswert, aber ich würde empfehlen dann auch das Buch von Dossie Easton and Janet Hardy, 'The Ethical Slut' (in Deutsch: 'Schlampen mit Moral') zu lesen. Darin wird das Thema jenseits vom Dualismus Monogamie/Gelegenheitssex mit wechselnden Partnern behandelt.