Drei Feste begehen wir jeden Frühling: Ostern, Auffahrt und Pfingsten. Doch nicht nur gläubige Christen feiern die heiligen Tage. Ostern, Auffahrt und Pfingsten sind Feiertage für alle. Aber wissen die heutigen Menschen noch, woran diese Tage erinnern?
Was wird an Ostern gefeiert? Die Auferstehung Christi, würden die Menschen sagen. Das wissen die meisten, so wie man weiss, dass die Hauptstadt von Japan Tokyo heisst.
Dann die Auffahrt. Da müssten wohl viele bereits überlegen. Aber dann würden sie denken: Auffahrt, da fährt etwas aufwärts – das kann nur Jesus Christus sein, der zum Himmel fährt.
Und nun also Pfingsten. Der Name des Feiertags verrät nichts über dessen Bedeutung, und so müssten die meisten Zeitgenossen gestehen, dass sie keine Ahnung von Pfingsten haben. Sie würden es gestehen, ohne rot zu werden. Niemand muss heute wissen, was an Pfingsten gefeiert wird. Es ist ein verlängertes Wochenende, mehr nicht.
Woran denke ich selber, wenn ich Pfingsten höre? Ich denke zuerst daran, dass ich einmal an Pfingsten, in jungen Jahren verliebt war. Und weil ich in England verliebt war, fällt mir als zweites ein, dass Pfingsten auf Englisch Whitsunday heisst. So ist das heute. Man bezieht die Dinge immer mehr auf das eigene persönliche Leben. Wenn wir Pfingsten hören, reagieren wir nicht mehr als Christen darauf, sondern als Individuen. Jeder von uns hat zu Pfingsten seine ganz spezielle Assoziation. An Pfingsten denkt man heute nicht mehr an Pfingsten.
Warum ist das so? Das ist so, weil an Pfingsten eigentlich nichts geschieht. Nichts Handfestes. An Pfingsten kommt kein Kind auf die Welt, da wird niemand ans Kreuz genagelt, niemand fährt in den Himmel – an Pfingsten geht es nicht mehr um Jesus Christus, sondern nur noch um Geist, um den Heiligen Geist.
Damit können wir nichts mehr anfangen. Unser modernes Leben ist so irdisch, so absolut weltlich geworden, dass wir nicht mehr wissen, was Geist ist. Vater und Sohn, das begreifen wir noch, das können wir uns wenigstens vorstellen. Aber der Heilige Geist ist unsichtbar, und weil er unsichtbar ist, existiert er nicht wirklich für uns.
Wir reden zwar schon noch vom «Geist»: vom Zeitgeist, vom gutem Geist einer Sache oder vom Weingeist. Aber das meinen wir nur symbolisch. Auch der Heilige Geist ist für uns nur ein Symbol, mehr ist er nicht. Mehr ist deshalb auch Pfingsten nicht wert für die meisten heutigen Menschen. Von allen christlichen Festen wäre Pfingsten deshalb der erste Feiertag, den man abschaffen müsste. Das wäre nur konsequent. Niemand, der nicht an Pfingsten glaubt, soll am Pfingstmontag frei haben.
Eine Welt, die das Geistige so negiert, ist zwangsläufig eine geistlose Welt. Sie ist eine sinnlose Welt, denn auch der Sinn ist unsichtbar. Auch der Sinn ist eine geistige Sache, und wer an den Geist nicht glaubt, für den gibt es letztlich auch keinen Sinn. So ist es ja heute. Nie war die Freiheit der Menschen grösser als heute, aber nie war auch die Sinnlosigkeit mehr verbreitet als heute.
Die meisten heutigen Menschen in der westlichen christlichen Welt wissen nicht mehr, warum sie leben. Sie leben einfach. Und manchmal, in den Ferien, betreten sie eine Kirche. Dann stehen sie da und schauen sich um, aber nicht, als würden sie die Kirche besichtigen, sondern als würden sie etwas suchen. Sie stehen mitten im kühlen, dämmerigen Kirchenschiff und suchen den verlorenen Sinn, den verlorenen Geist. Doch sie finden ihn nicht.
So sind die heutigen Menschen. Sie stehen in der Kirche wie Fremde, wie jemand, der als Erwachsener ins Haus seiner Eltern zurückkehrt – und dabei spürt, voller Traurigkeit, dass er nicht mehr dahin gehört, weil der Weg zurück in die Grenzen der Kindheit auch die Rückkehr in die Unfreiheit wäre.
Die Freiheit liegt immer vor uns, nie hinter uns. Und weil wir sie nicht mehr missen wollen, müssen wir vorwärtsgehen. Zurück in den Schoss der Kirche können wir nicht, auch wenn es einfacher wäre, auch wenn wir dann wieder im Elternhaus wären, wo wir wieder behütet sind. Aber das geht nicht. Wir können nicht mehr zurück. Das ist der Preis der modernen Freiheit, dass wir vorwärtsgehen, ohne zu wissen, wohin.
Was kann uns helfen in dieser Perspektivlosigkeit? Wie können die heutigen Menschen frei bleiben und doch wieder Sinn finden?
Die Antwort heisst Pfingsten. Was an Pfingsten geschah, damals vor 2000 Jahren, ist der Schlüssel zu unserer Zukunft. Was hat sich damals ereignet?
Ich bin nicht dabei gewesen – so vermute ich jedenfalls. Ich habe es nur in der Bibel gelesen, und die heutige Freiheit ermöglicht uns, es zu glauben oder es nicht zu glauben. Das ist der Segen der heutigen Zeit, dass man nicht mehr glauben muss, weil der Pfarrer es sagt, sondern glauben darf. Ich glaube an das, was die Bibel erzählt. Sie erzählt es durch Augenzeugen, und was diese berichten, hat eine solche Kraft, dass es wahr sein muss, Wort für Wort.
Ich glaube daran, dass Christus, nachdem er gestorben war, als Lichtgestalt den Jüngern erschien. Warum soll es nicht so gewesen sein? Warum soll ein Sehender nicht mehr sehen als jemand, der blind ist? Im Vergleich zu den Jüngern damals fühle ich mich als Blinder. Vielleicht sind wir alle blind, weil wir nur das Sichtbare sehen. Vielleicht bedeutet sehen, wirklich sehen, das Unsichtbare zu sehen.
40 Tage lang, von Ostern an gerechnet, erschien Christus den Jüngern in Lichtgestalt. «Und redete mit ihnen vom Reich Gottes», wie es in der Apostelgeschichte heisst. Was er ihnen sagte, worin er sie unterwies, darüber berichtet die Bibel nicht. Am 40. Tag erschien Christus zum letzten Mal vor den Jüngern, und er sagte zu ihnen: Wartet hier in Jerusalem, bis ihr getauft werdet mit dem Heiligen Geist, dessen Kraft euch erlauben wird, mein Werk fortzusetzen bis an das Ende der Erde.
Darauf entschwand er, am Tag der Auffahrt, und die Jünger blieben traurig zurück. Neun Tage trauerten sie, neun Tage gingen sie in sich, während neun Tagen verwandelte sich Trauer in Kraft und in Weisheit. Am zehnten Tag war es soweit, es war der 50. Tag nach Ostern, und «Pfingsten» bedeutet 50.
«Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war», heisst es in der Apostelgeschichte, «waren alle zusammen am selben Ort. Da erhob sich plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in welchem sie sassen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jedem von ihnen liess sich eine nieder. Und sie wurden voll des Heiligen Geistes und fingen an zu predigen mit anderen Zungen, wie es der Geist ihnen eingab.»
Was bedeutet das in unserer heutigen Sprache: «Sie wurden voll des Heiligen Geistes»? Es bedeutet, dass die Jünger, obwohl sie Menschen waren, göttliche Weisheit empfangen konnten. Wenn das aber so war, dürfen wir spekulieren, dass auch heute noch Menschen göttliche Weisheit empfangen können. Dann dürfen wir soweit gehen, zu behaupten, dass in jedem Menschen ein Potenzial steckt, das ihn befähigt, ein höheres Wissen zu haben und sich spirituell zu entfalten.
Mit anderen Worten: Wir feiern an Pfingsten die wunderbare Gewissheit, dass der göttliche gute Geist in uns allen lebt – leben könnte. Wir müssen nur wollen. Wir müssen uns ihm nur öffnen wollen. Auch als moderne Menschen sind wir nicht dazu verdammt, nur Materie zu sein, nur noch Körper, Nerven, Hirn und Verstand. Wir sind auch nicht dazu verdammt, ohne Sinn zu sein. Es gibt einen Sinn. Doch niemand hat ihn gepachtet, keine Kirche, keine Lehre, kein Gesetz. In uns selbst liegt der Sinn – in unserem persönlichen Leben, in unserem persönlichen Denken, dort müssen wir suchen.
Wie beschreibt der Apostel Lukas das Pfingstereignis? «Und sie wurden alle voll des Heiligen Geistes und fingen an zu predigen mit anderen Zungen». Was bedeuten die «anderen Zungen»? Der Apostel beschreibt, wie die Menge der Menschen wie vor den Kopf geschlagen und überrascht ist, als die Jünger von Christus nicht mehr nur in Hebräisch predigen, sondern in sämtlichen Sprachen. Jeder Angehörige eines Volkes – und es scheinen sämtliche Völker versammelt zu sein – erfährt das Evangelium in der Sprache, die ihm vertraut ist.
Mit anderen Worten: Was die Jünger, die Apostel verkünden, ist keine hebräische Religion mehr. Es ist die Religion, die keinem Volk und keiner Kirche allein gehört. Sie gehört allen Menschen.
Das ist der grosse Gedanke, den wir an Pfingsten eigentlich feiern: Dass das Christentum so viele Zungen, so viele Sprachen hat, wie es Menschen gibt. 2 000 Jahre sind seither vergangen, seit der Begründung von Pfingsten – und doch scheint es, als habe die christliche Zeit erst gerade begonnen.
Bearbeitete Fassung aus dem neuen Buch von Nicolas Lindt: «Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken».