Eine Affäre
Die wahre Geschichte einer Versuchung und die Frage nach ihrem Ausgang. Die Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten».
Dies ist eine Liebesgeschichte. Eine wahre Liebesgeschichte. Und weil sie wahr ist, will ich sie nicht verändern. Jedenfalls nehme ich mir das vor. Denn es würde mich reizen, sie zu verändern. Und auch Aline und Gregor spielten mit dem Gedanken, ihrer Geschichte eine andere Wendung zu geben.
Sie begegneten sich an der Bushaltestelle, als sie ihre Kinder zur Krippe brachten. Gregor hatte den Bus schon vorher jeweils genommen. Immer montags brachte er seine Tochter zur Krippe. Nun kam auch Aline mit ihrem Sohn an die Haltestelle. Sie grüssten sich kurz und dann merkten sie, dass sie beide den gleichen Weg und das gleiche Ziel hatten. Eine Woche später wechselten sie erste Worte. Am dritten Montag sagten sie sich ihre Namen.
Den Ring am Finger des andern hatten beide sofort gesehen. Doch ihre Partner erwähnten sie nicht. Es war eine stille Abmachung, denn sie mochten sich. Das wussten sie vom ersten Moment an. Und sie taten von Anfang an so, als wäre jederzeit alles denkbar. Während sie redeten, trafen sich ihre Blicke. Ihre Augen wollten kein Hindernis. Ihre Augen wollten nicht daran denken, dass sie verheiratet waren.
Viel reden konnten sie nicht, denn sie hatten die Kinder dabei. Sie mussten sich um sie kümmern, erklären, beschwichtigen, trösten, Schuhe binden und Nasen putzen. Das war einerseits schön, weil sie sich dabei unbemerkt zuschauen konnten. Aber manchmal war es auch ärgerlich, denn die Minuten verflossen schneller als der Bus unterwegs war.
Vier Haltestellen lang hatten sie Zeit. Immer nur diese vier Haltestellen. Sie suchten sich nie einen Sitzplatz. Da, wo sie einstiegen, blieben sie stehen, nur die Kinder liessen sie manchmal sitzen. Die Kinder schwatzten und lachten zusammen – Aline und Gregor sahen es gern. Sie machten sich sogar darauf aufmerksam. Schau mal, wie gut sich die Kinder mögen, sagten sie zueinander. Aber eigentlich meinten sie sich.
Nach dem Verlassen des Busses blieben ihnen noch zwei Minuten. Länger brauchten sie nicht bis ans Ziel, und Stehenbleiben lag auch nicht drin. Vor dem Eingang zur Krippe war Schluss. Sie bedauerten diesen Moment, aber sie waren auch jedesmal froh, dass der Abschied so improvisiert und so schnell verlief. Für Verlegenheiten fehlte die Zeit. Aline hatte es immer eilig. Sie durfte den nächsten Bus nicht verpassen, der sie zur Schule brachte, wo sie als Lehrerin tätig war. 5 Minuten Zeit hatte sie, um ihren Sohn den Betreuerinnen zu übergeben. Schon war sie weg.
Gregor musste sich weniger sputen. Er nahm den Bus in die andere Richtung, der später fuhr. Manchmal überlegte er sich, wie schön es wäre, mit Aline nach dem Verlassen der Krippe einen Kaffee zu trinken. Doch er verbot sich, weiterzudenken. Die Arbeit rief, und vielleicht war es gut so.
Abends holte Gregors Frau ihr Töchterchen von der Krippe ab. Gregor und Aline sahen sich nur am Morgen. Immer nur montags und immer nur während vier Haltestellen. Aber sie freuten sich schon die ganze Woche auf den folgenden Montag. Ihre Gedanken schweiften oft zueinander. Sie suchten sich auch im weltweiten Netz, und der Cursor lag oft auf der Freundschaftsanfrage. Sie hätten nur leicht zu klicken brauchen, doch sie zögerten. Sie zögerten jedesmal, denn sie waren erwachsen. Sie wussten: Wenn wir das tun, überschreiten wir eine Grenze. Wir überschreiten die Grenze des Montagmorgens.
Dann können wir nicht mehr aufhören.
Daran dachten sie jedesmal, wenn sie sich sahen. Aber sie dachten es nur. Neunundneunzig Prozent von dem, was sie fühlten, blieb unausgesprochen und ungetan. Nicht einmal ihren Augen gönnten sie die Erlösung, alles zu sagen. Dann hätten sie nicht mehr wegschauen können.
Sich zu sehen, begann wehzutun. Sie unterhielten sich, so wie immer, über die Kinder, die Arbeit, die Welt, über Dinge, die sie gern taten, doch das Reden wurde von Mal zu Mal schwieriger. Sie hätten längst etwas aussprechen müssen, aber das ging nicht. Manchmal, wenn die Kinder sie liessen, geschah es sogar, dass sie schwiegen. Vorher hatten sie nie um Worte gerungen. Jede Sekunde der Busfahrt hatten sie ausgekostet, und während sie redeten, hatten sie jede Gelegenheit wahrgenommen, sich zu betrachten, sich zu erobern.
Jetzt kam es vor, dass sie einen ganzen Moment lang stumm aus dem Fenster blickten. Es war ein betroffenes, ratloses Schweigen.
Dann, wie immer an einem Montag, stand Gregor mit seiner Tochter an der Bushaltestelle, und wie immer wartete er darauf, dass Aline mit ihrem Sohn - immer ein wenig knapp - um die Ecke gelaufen kam. Es war der Montag nach Ferienschluss. Während der Ferien brachte Aline ihr Kind nicht zur Krippe, das wusste Gregor. Zwei Montage hatte er überstehen müssen, ohne dass er sie sah. Jetzt freute er sich auf die Busfahrt mit ihr. Er freute sich auf das Bild, wenn sie vor ihm stand, immer ein wenig atemlos und immer ein wenig errötend.
Gregor dachte nicht mehr daran, wie es die letzten Male gewesen war. Wie schwierig es wurde. Er hatte Aline einfach vermisst.
Doch Aline kam nicht. War sie krank? Bestimmt war etwas dazwischengekommen. Als der Bus die Haltestelle erreichte, schaute sich Gregor noch einmal um. Und er sagte zu seiner Tochter, ein wenig enttäuscht: Warum kommen sie nicht? – Dann nahm er sein Kind bei der Hand und stieg ein.
Gregor sah Aline nie mehr. Ihr Stundenplan in der Schule hatte geändert. Aber nicht auf Betreiben der Schulleitung. Aline hatte selber dafür gesorgt. Sie tauschte die Stunden am Montag gegen andere Stunden.
Sie tat es für sich. Und für Gregor.
So hat die kaum begonnene Liebesgeschichte von Aline und Gregor geendet. Ich könnte das Ende ändern. Ich könnte, meine dichterische Freiheit benutzend, zum Beispiel schreiben, dass Gregor versuchte, Aline wiederzusehen. Indem er es übernahm, seine Tochter ausnahmsweise auch abends aus dem Hort abzuholen. Ich könnte schreiben, dass Aline, als sie unvermittelt wieder vor Gregor stand, auf einmal auch nicht mehr sicher war, ob sie richtig entschieden hatte. Ich könnte mir ausdenken, dass sie sich beide auf der Rückfahrt im Bus gestanden, es ohne einander nicht auszuhalten. Ich könnte die Glut der Gefühle der beiden schüren, bis das Feuer hoch auflodern würde.
Ich darf alles erfinden. Aber das entlastet mich nicht von der Forderung an mich selbst, die jeder Geschichtenerzähler beherzigen müsste: Meine Freiheit des Dichtens an der Botschaft zu messen. Will ich, dass die Affäre im Bus ihre Grenzen missachtet? Dass sie zerstörerisch wird? Will ich dem Zeitgeist Genüge tun, der das Spiel mit dem Feuer liebt?
Natürlich gibt es Begegnungen, die das Schicksal für uns in die Wege leitet. Aber das Schicksal kann auch Versuchung sein.
Im Zweifelsfall bleibe ich bei der Wahrheit. Den Alines und Gregors zuliebe.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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