Eine zunehmend gespaltene Persönlichkeit
Frühling 1974: Donovan lässt den Tee servieren – Zeit für eine Zäsur – Die «Incredible String Band» verzaubert mich – Scientology gegen Sozialismus – «Everything’s fine right now» – Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 76.
Die einzige Platte, die der bulgarische Kunststudent Sveti aus dem Westen besass, war ein Album von Donovan. Er legte es auf den Plattenteller, und so sass ich in einer Wohnung in Sofia, hörte Donovans «Catch the wind», hörte die durch ihn unsterblich gewordene Antikriegsballade vom «Universal soldier»und wusste wieder, warum der schottische Barde in den 60er-Jahren im gleichen Atemzug mit Bob Dylan genannt worden war. Donovans Stimme in Bulgarien zu hören, weckte in mir vertraute Gefühle. Seine Lieder berührten mich, ich kannte sie alle, und ich höre sie heute noch.
Nur wenige Wochen nach meiner Rückkehr aus Sofia gestaltete ich für das Radiostudio in Basel zum ersten Mal eine Radiosendung. Unter dem Titel «Wenn Volksmusik in die Stadt kommt» beschrieb ich darin die Verschmelzung von Folk und Rockmusik. Neben Bob Dylan erwähnte ich natürlich auch Donovan – und der Zufall wollte es, dass der begnadete Musiker zur selben Zeit in die Schweiz kam. Der Redaktor von Radio Basel, der meine Sendung betreute, plante deshalb ein Feature speziell über Donovan. Er organisierte ein Interview mit dem Star und lud mich ein, mitzukommen. Auf diese Weise könne ich lernen, wie man ein Radiointerview führte und hätte dann auch die Gelegenheit, dem Künstler selber einige Fragen zu stellen.
Die bescheidene Herberge, in der Donovan während seines Zürcher Aufenthalts wohnte, war das hoch über der Stadt thronende Grand Hotel Dolder, in das ich noch nie einen Fuss gesetzt hatte. Die weichen Teppiche in der Eingangshalle betreten zu dürfen, war eine neue Erfahrung für mich, und ich vermute, dass ich beeindruckt war. Aber das liess ich mir sicher nicht anmerken. Denn ich hatte nicht die Absicht, über die exklusive Ambiance zu staunen oder sie gar zu bewundern. Ich blickte verächtlich auf sie hinab. In der Basler «National-Zeitung», für die ich nun gelegentlich schrieb – weshalb, das werde ich noch zu berichten haben –, schilderte ich später meine Begegnung mit Donovan:
Da sitze ich nun in der Suite eines noblen Zürcher Hotels und rede mit Donovan über Gott und die Welt. Eigentlich wollen wir den Boden der Realität nicht verlassen, aber Donovan setzt immer wieder zu geistigen Höhenflügen an. Er, der grosse britische Folksänger der Sechziger Jahre, war nie ein Realist, sondern ein Träumer, und dass er noch vor wenigen Jahren Protestlieder sang, kommt ihm heute selbst als Ausrutscher vor, seinem jugendlichen Übermut zuzuschreiben. ‚Meine Art Protest ist es heute eher, über Schönheit zu singen‘, sagt Donovan mit warmer, sanfter Stimme und einem verklärten Leuchten in den Augen. Er wirkt so ausgeglichen, so reif und erfahren, wenn er über Harmonie, Frieden und Glück philosophiert, dass mir seine Monologe wie eine Predigt vorkommen.
Mein Lästern über Donovans «verklärtes Leuchten» war leicht durchschaubar: Er provozierte mich mit dem, was er sagte. Wie konnte er ernsthaft behaupten, auch über Schönheit zu singen, sei ein Protest? Damit traf er eine empfindliche Stelle in mir. Denn wie war die Musik, die ich hörte? Sie war schön. Ihre Schönheit vor allem gab mir die Kraft, als junger Mensch gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Ihre Schönheit nährte meinen Protest. Donovan hatte recht. Aber das durfte ich mir nicht eingestehen. Dann wäre mein ganzes weltanschauliches Credo in sich zusammengefallen.
Doch da kam mir die «ach so harte, böse Realität» zu Hilfe: «Ein junger Kellner in schlichter Uniform betritt das Zimmer und schiebt einen Servierboy vor sich her. Der Tee wird serviert, artig lassen wir uns einschenken, warten geduldig, bis der junge Bedienstete den Raum wieder verlassen hat. Ich halte es nicht mehr aus und mache Donovan auf den Widerspruch aufmerksam: Wir reden da über Ideale, brauchen viele schöne Worte, derweil dieser junge Mensch uns untertänigst den Tee serviert, ohne die Chance, je auch nur eine annähernd privilegierte Situation zu erreichen wie Donovan, der im teuersten Zürcher Hotel logiert und in seiner kreativen Tätigkeit als vielbewunderter Musiker mehr Energie und Befriedigung findet als das gesamte Hotelpersonal jemals. Was antwortet mir der Künstler darauf? ‚Jeder hat doch seine Arbeit – ich singe, er serviert uns den Tee.‘»
In meiner moralistischen Pose kannte ich keine Gnade. Dennoch wundere ich mich über mich selbst. Wie konnte ich einerseits Donovans Platten auflegen und mich an seiner Musik erfreuen, mich von ihr trösten und ermutigen lassen – den Schöpfer dieser Musik jedoch ohne jeden Respekt derart beschuldigen?
Der junge Mensch, der ich damals war, kommt mir heute vor wie eine zunehmend gespaltene Persönlichkeit. Und ich kam erst so richtig in Fahrt. Noch viele Jahre dauerte es, bis ich Kopf und Herz miteinander versöhnen konnte.
Bei der Sängerin Joni Mitchell hatte ich noch Verständnis dafür gezeigt, dass Musiker und überhaupt Kunstschaffende ohne eine gewisse privilegierte Situation nicht in der Lage wären, ihrer Schöpfungskraft freien Lauf zu lassen. Ich hatte noch eingesehen, dass sozialistische Gleichschaltung keine grosse Kunst hervorbringen konnte. Doch inzwischen war ich an einen Punkt meiner Radikalisierung gelangt, wo ich keinen Pardon mehr duldete.
«Donovan», urteilte ich, «kann sich das Träumen und Philosophieren leisten, denn er wird mit der Realität, wie sie die meisten Menschen täglich erleben müssen, kaum mehr konfrontiert. Was er sagt und denkt, worüber er singt, wie er lebt – das alles geschieht in einem Freiraum, wo die menschlichen Werte und Ziele unangetastet bleiben. Donovan und seine berühmten Kollegen in der Rockszene profitieren – zum Teil sicher unbeabsichtigt – von der Klassengesellschaft, die solche Privilegien überhaupt erst ermöglicht. Und je länger sie in ihren Elfenbeintürmen bleiben, desto mehr entfremden sie sich von der Realität, die sie früher am eigenen Leib erlebten.»
Offenbar konnte ich über Musik nicht mehr schreiben, ohne gebetsmühlenartig von «Klassengesellschaft» und «Privilegien» zu sprechen. Es wurde Zeit für eine Zäsur. Die neue Herausforderung einer Radiosendung kam für mich deshalb im rechten Moment. Ich musste umdenken, denn eine Radiosendung über Musik enthält vor allem Musik. Die Worte, an denen es mir bekanntlich nicht fehlte, mussten ein wenig zur Seite rücken.
*
In meiner Sendung zeigte ich anhand verschiedener Hörbeispiele, wie sich Folk und Rock gegenseitig befruchteten. Doch vor allem ermöglichte mir die Sendung, im ganzen Land die Musik einer einzigen Band zu verbreiten – jener Band, die für mich ein Heiligtum war. Ich hätte hier schon längst von ihr schreiben müssen. Wie Donovan kamen auch sie aus Schottland: die Musiker der «Incredible String Band».
«Ich stelle mir vor: die schottischen Highlands, eine stille, grüne und weite Hügellandschaft, der blaue Himmel, durchsetzt von geballten Wolken, vereinzelte Bauernhöfe und Weiler, durch gewundene Wege, zwischen taufeuchten Wiesen und Mooren miteinander verbunden – und auf einer Anhöhe neben der Ruine einer Kapelle die alte knorrige Eiche mit ihrem weit gefächerten Laufwerk, gegen Wind und Wetter gefeit. Dieser Baum wird manchmal von jungen Leuten besucht: Sie wohnen in seiner Nähe und man kennt sie bei uns unter dem Namen ‚Incredible String Band‘.»
So schwärmerisch und wildromantisch, an der Grenze zum Kitsch, hatte ich die Band schon zwei Jahre vorher im «Tages-Anzeiger» beschrieben – und dabei nicht mit Superlativen gespart. Ihre Musik hatte mich vom ersten Moment an so sehr verzaubert, dass mein üblicherweise kritisches Urteil völlig versagte. Mike Heron und Robin Williamson hiessen die beiden Musiker der «Incredible String Band». In der schottischen Folkszene grossgeworden, brachen sie Mitte der 60er-Jahre auf, um ihren musikalischen Horizont zu erweitern. Sie schufen ein einzigartiges Universum. Spiritualität, Rockmusik, indische Klänge, schottischer Folk, das alles und noch viel mehr vereinigte sich in den wunderbar melodiösen und magischen Stücken der beiden schottischen Virtuosen, die zusammen mit ihren Begleitmusikern scheinbar mühelos zwei Dutzend Instrumente für ihre Kompositionen verwendeten.
Doch obwohl die Incredible String Band sogar auf der Bühne von Woodstock stand und obwohl sich von den Rolling Stones bis zu Led Zeppelin viele grosse Namen in der britischen Szene von der schottischen Band inspirieren liessen, blieb sie ein verborgener Diamant, der aufgespürt und entdeckt werden wollte. Aber genau deshalb verliebte ich mich in diese Musik. Weil ich sie nicht mit Millionen Anderen teilen musste. Weil sie nur mir gehörte. Mir und all denjenigen, die den Zugang zu ihr gefunden hatten.
Robin und Mike ebenso wie Likky und Rose, die beiden Frauen in der Incredible String Band – sie wirkten noch immer wie Hippies, obwohl die Flowerpower-Zeit doch gestorben war. Vom musikalischen Mainstream waren sie weit entfernt. Sie passten in keine Kategorie, und in den Single-Charts suchte man sie vergeblich. Viele fanden die Band zu versponnen, zu weltfremd, zu ausgefallen – aber genau dieses Eigene, Unverwechselbare schlug mich in ihren Bann.
In ihren Texten waren sie überhaupt nicht «politisch» oder «gesellschaftskritisch», was mir im Grunde hätte missfallen müssen. Doch meine «Persönlichkeitsspaltung» machte vor der Incredible String Band nicht Halt. Tagsüber – schreibend, redend und handelnd – strebte ich den Idealen des Sozialismus entgegen. Abends jedoch, in den stilleren Stunden auf der Waldegg, wenn meine Schreibmaschine verstummte und die Welt mein Zimmer verlassen durfte, liess ich mich fallen in jene so andere, entrücktere Welt der Incredible String Band. Die Unvereinbarkeit dieser beiden gegensätzlichen Welten erkannte ich nicht.
*
Meine Sendung für Radio Basel enthielt nicht nur zahlreiche Songs der Band – sie enthielt auch ein Interview, ein Gespräch mit Robin Williamson. Für mich ein Glücksfall, denn die Band war zum ersten Mal für ein Konzert nach Zürich gekommen. Mit einem professionellen Tonbandgerät ausgestattet, das ich im Studio Zürich abholen konnte, begab ich mich in das Hotel, in welchem Robin und Mike logierten. Es war nicht das Dolder Grand, sondern ein Dreisternhotel im Seefeld, was meine Weltanschauung natürlich zu schätzen wusste. Auch Robin selbst, der sich viel Zeit für mich nahm, wirkte viel weniger abgehoben als Donovan. Und den Tee mussten wir selber aufs Zimmer mitnehmen.
Ich stellte auch Robin kritische Fragen zu den «Privilegien» des erfolgreichen Künstlers, doch im Mittelpunkt des Gesprächs stand zum Glück die Musik. Und vor allem freute ich mich auf das Konzert am Abend, das – wie schon der Auftritt von «Roxy Music» – im volksnahen Volkshaus stattfand. Veranstaltet wurde es wie die meisten Konzerte von «Good News», jener Konzertorganisation, deren Geschäftstüchtigkeit ich schon mehrmals angeklagt und als «Profitinteresse» gebrandmarkt hatte. Entgangen war das den jungen Bossen von Good News nicht, und sie hätten mir keine Pressekarten mehr geben müssen. Aber da wir uns kannten, wussten sie von meiner Begeisterung für die Incredible String Band – und mit Sinn fürs Geschäft anerboten sie mir, im Programmheft von «Good News» für den Auftritt zu werben.
Konsequenterweise hätte ich nein sagen müssen – doch selbst feurige Idealisten sind manchmal käuflich. So rührte ich kräftig und ohne jeden kritischen Einwand die Werbetrommel für das Konzert – und konnte so vielleicht dazu beitragen, dass das Gastspiel meiner geliebten Band für «Good News» kein Verlustgeschäft wurde. 1600 Stehplätze fasst der Theatersaal, doch er wurde nur zur Hälfte gefüllt. Ein Geheimtipp füllt keine Säle, das hätte ich wissen müssen. Doch die, die gekommen waren, erlebten einen unvergesslichen Abend, der auch dramaturgische Elemente enthielt und die Band auf dem Höhepunkt ihres Schaffens zeigte. Mittendrin stand ich selbst, diesmal kein bisschen Kritiker, sondern – wie in den frühesten Tagen meiner Leidenschaft für die Rockmusik – einfach nur Fan und begeistert.
Doch dann, was geschah am Ende der zweiten Zugabe, die Robin und Mike noch einmal allein, mit «This moment», einem ihrer schönsten Lieder, zurück auf die Bühne brachte? Kaum war der Applaus verebbt, mischten sie sich unter die überraschten Zuschauer. Das hatte noch niemand jemals erlebt, dass die Stars ihr Podest verliessen. Und noch viel mehr erstaunt war das Publikum, als Robin und Mike Flyer zu verteilen begannen. Flyer wofür?
Die Musiker warben für Scientology. Die noch heute weltweit tätige, neureligiöse Sekte, die zahllose Menschen in Dogmatismus und Hörigkeit stürzte, wurde damals für viele Sinnsuchende zur vermeintlichen Heilsbringerin. Auch viele Filmstars und Musiker wandten sich der verhängnisvollen Verführerin zu, und manche von ihnen sind, wie man weiss, noch heute dabei. Dass nun aber an jenem Abend im Volkshaus ausgerechnet die beiden von mir so verehrten Musiker Scientology-Propadganda verbreiteten, war ein Schock nicht nur für mich, sondern für viele andere Zuschauer auch. Wir waren gekommen, um der wunderbaren Musik dieser Band zu huldigen, nicht um bekehrt zu werden.
Hätte ich in den Spiegel der Wahrheit geblickt, dann hätte ich mir eingestehen müssen, dass auch ich im Begriff war, ein Scientologe zu werden. Ein Sektenmitglied des Sozialismus. Doch der Spiegel der Wahrheit hängt nicht einfach an einer Wand. Wir finden ihn nur in uns selbst, und da suchte ich nicht.
Etwas später an jenem Abend lud «Good News» zum gemeinsamen Abendessen. Und so ergab sich bei Tisch die groteske Situation, dass Robin und Mike für Scientology warben – während ich den sozialistischen Weg propagierte. Von Musik war nicht mehr die Rede. Zu unserer beiderseitigen Ehrenrettung kann ich hinzufügen, dass sich Robin und Mike schon nach wenigen Jahren von ihrer geistigen Abhängigkeit wieder befreiten. Und dieselbe Befreiung auf meine Art durfte später auch ich erleben.
*
In meinem Konzertbericht für die «Zürichsee-Zeitung» erwähnte ich meine Enttäuschung am Ende des Abends mit keinem Wort. Ich hatte ausnahmsweise die Grösse, das Wesentliche zu sehen. Und das Wesentliche war meine Liebe zur Musik der Incredible String Band, die nur eine einzige Überschrift zuliess: «Das schönste Konzert seit langem». Solche Hingebung brachte ich, was die Musik betraf, nur noch selten über die Lippen, Und auch die folgenden Zeilen meines Berichts hätten mich selber erstaunen müssen:
Eröffnet wurde der Abend mit ‚Everything’s fine right now‘. Es ist ein Stück über die Freude am Augenblick, ein Liebeslied, das Glück und Harmonie vermittelt und sicher auch Naivität. Das leichtfüssig interpretierte Lied trägt eine Stimmung in sich, die manche von uns belächeln, weil uns stets der Verstand in die Quere kommt. Doch vielleicht hat der Auftritt der Incredible String Band dem einen oder andern geholfen, diese Barriere für ein paar Momente zu überwinden.
Ich meinte mich selbst. Für ein paar Momente schloss sich der Graben meiner Persönlichkeitsspaltung. Das gelang damals nur der Incredible String Band. Ich habe ihr dankbar die Treue gehalten, seit 50 Jahren, obwohl es sie längst nicht mehr gibt. Aber das ändert nichts. Sie ist heute noch meine Nummer 1.
Nächste Folge nach der Sommerpause am 25. August
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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