Gedanken einer Gefährderin

Warum es schwieriger geworden ist, sich als kritische Journalistin selbst treu zu bleiben – und warum ich trotzdem weiterhin für meinen Beruf brenne. Kolumne.

Als ich neun Jahre alt war, wollte ich Detektivin werden. Ich hatte stets meinen Notizblock, meine Pinzette und meine Lupe dabei. Meine Rapporte über die ungeklärten Fälle aus der Nachbarschaft tippte ich auf der Schreibmaschine meiner Eltern, die ich auch dazu benutzte, Krimis zu schreiben. Der erste, der – auf der Kinderseite des Tagesanzeigers – abgedruckt wurde, hiess «Nebel auf der Terrasse» und handelte von einem Mord in einem Haus mit der Nummer 13.

Die Detektiv-Phase dauerte ungefähr zwei Jahre, bis mein Vater eines Tages sagte: «Warum wirst du nicht Journalistin? Dann kannst du deine zwei grössten Leidenschaften verbinden: recherchieren und schreiben.» Gesagt, getan – von diesem Tag an stand meine Zukunft fest. Auch wenn ich damals nicht ahnen konnte, wie sehr ich eines Tages für diesen Beruf brennen würde. Besonders deshalb, weil er für mich auch eng mit Aktivismus verbunden ist. Meine Texte sind nicht neutral. Wenn ich nicht Partei ergreifen könnte, hätte der Journalismus für mich keinen Sinn mehr.

Meiner Meinung nach gibt es keine neutralen Journalisten und keine neutralen Medien. Die Positionierung beginnt nämlich bereits mit der Auswahl der Themen, die darüber entscheidet, was die Öffentlichkeit erfahren soll und in welchem Umfang. Die Auswahl von Interviewpartnern, Wortwahl und Bildsprache sowie die Entscheidung, welchem Aspekt eines Themas wie viel Platz eingeräumt wird, beeinflusst die Meinung der Leserschaft ganz subtil und ohne dass sie sich dessen bewusst ist.

Die Annahme, dass neutrale Berichterstattung möglich ist, hat zur Folge, dass viele Menschen davon ausgehen, aus den Medien die «Wahrheit» zu erfahren und sich auf Grund dessen ihre eigene Meinung bilden zu können, ohne «sich beeinflussen zu lassen». Das ist für mich eine Illusion, der ich ganz bewusst Texte entgegensetze, die explizit Stellung beziehen. Doch in letzter Zeit ist es schwierig geworden, sich als kritische Journalistin treu zu bleiben, ohne diffamiert zu werden. Dass man angegriffen wird, wenn man nicht die allgemeine Meinung vertritt, ist nichts Neues. Dies habe ich seit meinem ersten Artikel im Tages-Anzeiger im Jahr 2005, in dem ich mich mit dem in der Schweiz so selbstverständlich gewordenen Rassismus anlegte, immer und immer wieder erlebt. Ich bekam im Verlauf der Jahre viele böse Briefe und E-Mails, wurde beschimpft, verleumdet und bedroht.

Seit Corona zum Hauptthema in der Politik und in den meisten Medien geworden ist, hat sich die Situation nochmals zugespitzt. Es ist sehr schwierig geworden, eine sachliche Debatte zu führen. Unabhängig vom Thema freue ich mich immer über Kritik an meinen Texten, Gegenargumente und andere Meinungen, solange sie sich auf einer inhaltlichen Ebene bewegen, einigermassen fundiert sind und nicht in persönlichen Beleidigungen ausarten. Wenn ich mir aber «Coronaleugerin» oder «Verschwörungstheoretikerin» sagen lassen muss, weil ich die Meinung vertrete, dass die Pandemie-Massnahmen in vielen Ländern dramatischere Folgen haben als der Virus selbst, hat das nichts mehr mit konstruktiven Inputs zu tun.

Nun gut, wenn ich als suspekt gelte oder zur Terroristin werde, weil ich die Einhaltung der Menschenrechte einfordere, soll’s mir recht sein.

Über

Nicole Maron

Submitted by christoph on Mo, 04/19/2021 - 17:25

Nicole Maron (*1980) aus Zürich ist Journalistin und Buchautorin. Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Bolivien und Peru. Ihre Schwerpunkte sind umwelt- und sozialpolitische Themen wie Flucht und Migration, globale Gerechtigkeit, Konzernverantwortung und Menschenrechte. 

Von Nicole Maron ist zuletzt erschienen: «Das Blut des Flusses» – Der in Espinar/Südperu gedrehte Dokumentarfilm zeigt auf, welche gravierenden Schäden das Schweizer Bergbauunternehmen Glencore vor Ort anrichtet.
https://www.youtube.com/watch?v=9Rj7lJc1GWY