Geschichtsvergessen

Ist Zeit eine Illusion oder die Wirklichkeit? Sollen wir im Hier und Jetzt sein – oder aber Verantwortung für unsere Vergangenheit und Zukunft übernehmen? Die Samstagskolumne.

In letzter Zeit begegnet mir der Begriff «geschichtsvergessen» immer öfter, und ich frage mich, was damit eigentlich gemeint ist. Er wird auf Äusserungen und politische Aktionen angewandt, von denen ein Kritiker meint, sie dürften nicht sein oder wären ganz anders, wenn die Akteurin wüsste, was vorher an diesem Ort, mit diesem Gegenstand oder unter diesem Namen geschehen sei. Offenbar wird da der Anspruch erhoben, man müsse die Vergangenheit gut genug kennen und sich dieser bewusst sein, ehe man mit einer Aktion loslegt.

Dem gegenüber steht der Satz von Jesus: «Lasst die Toten ihre Toten begraben», den er einem Menschen sagte, der erst seinen Vater begraben wollte, ehe er diesem umstrittenen Guru jener jüdischen Sekte folgen würde. Das ist in etwa auch die Philosophie der Hier&Jetzt Bewegung, von Ram Dass, einem Idol der Hippiebewegung, Eckart Tolle in seinem Buch «Die Kraft der Gegenwart» sowie dem christlichen Mystiker Meister Eckart, der in einem viel zitierten Satz sagt:

Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart,
der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht,
und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.

Ist diese Gegenwartsphilosophie nicht sehr geschichtsvergessen?

Von deutschen Politikern wird verlangt, dass sie bei ihrem Auftritt in der Welt nicht vergessen, dass ihr Land den Holocaust zu verantworten hat und die zwei schrecklichsten Kriege, die es je gab. Ein Leugnen dieser Vergangenheit und Ablehnen der ihr entsprechenden Verantwortung sei «geschichtsvergessen» sagt man. 

Es gibt sogar den Begriff des «Holocaustleugners», der auf politische Gegner angewandt wird, die den Holocaust verharmlosen. Das gilt als Geschichtsrevisionismus. Damit bezeichnet man Versuche, so die Wikipedia, «ein wissenschaftlich, politisch und gesellschaftlich anerkanntes Geschichtsbild zu revidieren, indem man bestimmte historische Ereignisse wesentlich anders als in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft darstellt, erklärt oder deutet».

Soll das etwa heissen, dass ich anerkannte Geschichtsbilder nicht neu deuten darf? Die Bekehrung indigener Völker zum Christentum, die Verleihung von Titeln wie «der Grosse» an brutale Feldherren wie den Makedonier Alexander, der mit seinem Heer bis Indien zog und noch so vieles andere? Auch das anerkannte Geschichtsbild, dass die USA uns Deutsche gegen Feinde aus dem Osten beschützen, könnte zum Vorwurf des «NATOschutzleugners» führen, fürchte ich, der dann ähnlich angewandt wird wie noch vor kurzem der des «Pandemieleugners».

Um mich von solchen schweren Vorwürfen der Nonkonformität mit dem Mainstream zu erholen, kehre ich zurück zur Philosophie des Gegenwartsbewussteins. Auch wenn wir über Vergangenes nachdenken, geschieht dies ja in der Gegenwart. Ebenso wie jegliche Zukunftsplanung. Die Philosophie des Hier&Jetzt verweigert sich ja nicht dem Planen und sich Erinnern generell, sondern sie kritisiert das Vergessen der Gegenwart, während man grübelnd Vergangenem nachtrauert, das man eh nicht mehr ändern kann, oder sich in Wunschträume einer besseren Zukunft verliert, für die man zu faul oder unfähig ist, das Nötige zu tun.

Als ich 1977 von meinem damaligen indischen Guru eingeweiht wurde, lachte ich den Ashram-Fotografen aus, als er mir ein Foto dieser Zeremonie verkaufen wollte. Sollte ich mir dieses Foto an die Wand hängen als Beweis meiner Initiation, so wie andere ihren Meisterbrief oder Uniabschluss?

Lächerlich. Mein Gefühl war, dass ich von dem Zeitpunkt an ganz in die ewige Gegenwart eintauchen würde oder das jedenfalls ab jetzt meine zentrale spirituelle Praxis sei. Immer im Hier&Jetzt, nie im Dann&Fort, sollten die andern nur weiter grübeln und ihren irrealen Träumen und Illusionen nachhängen, ich wäre in der Realität angekommen, ganz im Jetzt und Hier.

Heute nenne ich meine Gefühle von damals «naive Spiritualität».

Den Vorwurf der Geschichtsvergessenheit lasse ich allerdings nicht gelten, wenn er benutzt wird, um zur Konformität zu erziehen. Dazu habe ich ein zu wildes, freiheitsliebendes, anarchisches Herz. Anarchismus ist für mich nicht die Weigerung, bei einer roten Ampel zu halten. Ganz ähnlich auch in Bezug auf andere gesellschaftliche Regeln. Für mich ist es die Verweigerung der Hörigkeit, des blinden Mitlaufens in einer dummen Herde und des vorauseilenden Gehorsams, wenn es zum Beispiel um die mainstream-konforme Interpretation der Vergangenheit geht.

Wenn allerdings deutsche Generäle im Jahr 2024 die Rückeroberung der Krim diskutieren, wobei sie ja trotz Geheimhaltung erwischt wurden, oder eine deutsche Aussenministerin seit Februar 2022 unverdrossen Russland besiegen will, nenne ich das geschichtsvergessen. 

Und auch auf die Zukunft bezogen gibt es Zeitvergessenheit, wenn etwa Politiker sich selbst gratulieren, dass sie bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle 100 Jahre im Voraus gedacht haben. Die Halbwertszeit einiger der radioaktiven Abfälle beträgt mehrere hundert Millionen Jahre. 

Oder wenn die Planer von Verpackungen, die Hersteller von Antibiotika, die vom Abwasser ins Grundwasser gelangen oder die bonusabhängigen Vermarkter und Verkäufer von Düngemitteln bestenfalls an die nächste Generation denken. Nicht aber wenigstens an die nächsten sieben Generationen, wie es das Prinzip einiger Irokesenstämme Nordamerikas in den Jahrhunderten nach der Eroberung ihrer Länder durch die Europäer war, die wir Europäer ja heute eher in Quartalsgewinnen oder Legislaturperioden vorausdenken.

Bei der us-amerikanischen Buddhistin und Tiefenökologin Joanna Macy habe ich das Prinzip der «Tiefenzeit» kennengelernt. Das ist ein Zeitbewusstsein, das sich in der Gegenwart verankert, im Jetzt, dort aber die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft einbezieht. So als stünden hinter mir die Vergangenheit, meine Eltern, Grosseltern und alle Ahnen und auch die Geschichte meines Heimatlandes und sogar meiner Spezies Homo sapiens. Und vor mir die Kinder, Enkelkinder und alle weiteren Generationen und die ganzen Linien der Konsequenzen meines gegenwärtigen Handelns. Was mal war, ist immer noch in mir. Und was sein wird, ist schon jetzt in mir angelegt und kann aus diesem Jetzt hervorquellen, wenn ich mich dafür entscheide.

Aus dieser Perspektive werden auch die seltsamen Wirkungen der systemischen Aufstellungen auf einmal verständlich. Ebenso Intuitionen und geistige Eingebungen, die Zukunft betreffend. Auch meine Motivation, eine gute Welt zu hinterlassen, die mich glücklich macht, obwohl ich diese Welt nicht mehr erleben werde. Sogar die Scham, ein Deutscher zu sein, dessen Volk so viel Schreckliches in die Welt gebracht hat, wird dann erklärlich und akzeptabel. Und die Scham, die ich als Mann empfinde wegen der Folgen des Patriarchats. Und obwohl diese Scham ein Anhängen an Vergangenes ist, schäme ich mich dieser Scham nicht, denn sie ermöglicht mir, Teil einer Veränderung zu sein, die die Welt braucht.

Ist Zeit nun eine Illusion oder die Wirklichkeit?

Ganz ähnlich dieser Frage positioniere ich mich auch im Raum jeweils an einem einzigen Ort, obwohl ich doch die ganze Welt in mir habe und weiss, dass jeder Ort im Universum seine Mitte ist! Die Peripherie um jeden dieser Orte ist immer 13,7 Milliarden Lichtjahre entfernt, von allen diesen Punkten gleich weit. Und das gilt sogar für die Worte an der – vermeintlichen – Peripherie.

Zeitlich steht jeder von uns im Jetzt, räumlich genau hier. Das Hier&Jetzt ist sozusagen die Senkrechte, das Absolute. Die Horizontale das Relative. Das Absolute ist schon immer der Fall. Es ist zugleich nicht erreichbar und unvermeidbar. Sich dieser Tatsache gewahr zu werden, wird manchmal Erwachen genannt.

Das Relative ist der Boden, auf dem wir von hier nach dort gehen, vergangenheitsbewusst und die Zukunft planend, so rücksichtsvoll gegenüber den anderen Lebewesen, wie wir eben können. Dabei immer unserer Subjektivität bewusst, die so unbezweifelbar ist wie eine mystische Erfahrung, ein spirituelles Erwachen und das Fühlen des Sonnenlichts auf der Haut. Relativ ist, wie ich mir diese Erlebnisse erkläre. Absolut ist, dass ich sie erlebe, und diese Absolutheit, das Erleben meiner Lebendigkeit, macht mich glücklich.

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