Häutungen – oder: Was müssen wir hinter uns lassen, damit eine Friedensbewegung entsteht?

Im Garten fanden wir eine immense Schlangenhaut. Ich nehme das symbolisch: Auch wir müssen alte Häute aus Definitionen, Narrativen und Gewohnheiten zurücklassen, um eine Chance auf Gemeinschaft, Frieden und Zukunft zu haben.

Ich möchte wissen, wie wir den Krieg verhindern. Denn Krieg wird gerade immer wahrscheinlicher. Glauben Sie nicht? Dann schauen Sie hin: Unser Land bietet sich als Aufmarschgebiet des Westens gegen den Feind im Osten an. Dass Putin mit allen Mitteln gestoppt werden müsse, dass Kriegstüchtigkeit gefordert wird, dass man immer mehr Waffen an Krieg führende Länder wie die Ukraine schickt und erlaubt, sie auch in Russland einzusetzen – 80 Jahre, nachdem Deutschland 27 Millionen Russen im Krieg ermordete! – zeigt, dass alle Lehren des vergangenen Jahrhunderts vergessen wurden und Krieg als eine Option ins Auge gefasst wird.

Gleichzeitig empfand ich den Sommer als unglaublich schön. Waren die Bäume immer so grün? Das Licht auf dem Wasser so leuchtend? Die Menschen so herzlich und offen? Oder spielt mir mein Inneres einen Streich – weil es ahnt, dass dies die Ruhe vor dem Sturm ist?

Dabei hat sich schon so viel verändert in den letzten Jahren, dass man kaum mitkommt. Die Umwertung so vieler Werte... die Aufrüstung und Kriegspropaganda durch ehemalige Pazifisten... das Beschimpfen von Friedensmahnern als Lumpenpazifisten… die Spaltungen innerhalb von Freundeskreisen, Familien, ehemaligen Weggefährten… die Ausgrenzung Andersdenkender durch die Cancel Culture… das Verbot unliebsamer Medien… eine KI, die unauffällig immer mehr Bereiche unseres Lebens regelt – wer konnte das alles vorhersehen?

Aber Krieg? Das dürfen wir nicht zulassen. Wir brauchen eine entschlossene Friedensbewegung, mindestens wie in den frühen Achtziger Jahren. Doch die Initiativen dazu zerreiben sich bisher in Spaltungen und inneren Kämpfen, werden von aussen attackiert und verleumdet – finden nicht in eine gemeinsame Kraft. Ist Krieg also unabwendbar?

 

Den Muskel der Zuversicht trainieren

„Wir müssen die Zuversicht trainieren wie einen Muskel“, sagte mir heute ein Gast unseres Hauses beim Frühstück. Ich trainiere ihn also, diesen Zuversichtsmuskel, und übe zu glauben, dass wir individuell und kollektiv als Gesellschaft noch eine Transformation vollziehen werden. Einen Wandel, der Krieg unmöglich macht. Der ihm den Boden entzieht: den Boden unserer heimlichen Komplizenschaft, unseres Gehorsams, unserer Anpassung und Unterordnung. Den Boden unserer tauben Stellen, die sich weigern zu fühlen und mitzufühlen, was Krieg eigentlich ist. Den Boden unserer Machtfantasien und unseres Festhaltens an Privilegien. Den Boden unserer allzeit abrufbaren Angst. Wir haben lange – generationenlang, in Familien, Schule, Arbeit – Krieg und Kampf geübt und praktizieren in unseren sozialen Mechanismen „Flight, Fight or Freeze“. All das müssen wir loslassen, um friedenstauglich zu werden und eine Friedenskraft aufzubauen. Wie soll das gehen?

Ich erinnere an das Hopi-Gleichnis vom Fluss, das nach den Sprengungen des World Trade Center veröffentlicht wurde. In meinen Worten geht es so: Als der Fluss immer reissender wurde, hielten sich die Menschen immer krampfhafter am Ufer fest, um nicht zu ertrinken. Der Fluss aber stieg, das Festhalten konnte nicht mehr lange gutgehen. Da wagte es die erste loszulassen. Sie schwamm mit aller Kraft mitten hinein in den Fluss. Sie wurde kopfüber herumgewirbelt, ihre Lungen brannten, sie schnappte nach Luft und dachte, ihre letzten Momente wären gekommen. Doch auf einmal fühlte sie sich getragen. Der Fluss trug sie. Sie schaffte es, den Kopf über Wasser zu bekommen und siehe, vor ihren Augen tauchte ein Gesicht auf, und noch eines, mehrere: alles Menschen, die sich auch für das Vertrauen entschieden hatten und gegen alle Wahrscheinlichkeit und Berechnung die alte Matrix losgelassen hatten. Sie erkannten sich!

Es ist ein Gleichnis für das Wunder, für das wir arbeiten: die Bildung eines Netzwerkes, das nicht mehr zerreissen kann. Einer echten Friedensbewegung mit einem gemeinsamen Ziel. Die Hopi sagten: „Die Zeit des einsamen Wolfes ist vorbei.“

Das alte Ufer – das sind unsere alten Sicherheiten, Annahmen, Überzeugungen und Identifikationen, an denen wir uns bisher orientiert und sozialisiert haben. Am Ufer glaubten wir alles, was in der Tagesschau gesagt wird. Können uns nicht vorstellen, dass wir so systematisch desinformiert werden. Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Aber so wenig wie ein Reicher ins Himmelreich kommt, so wenig werden wir den Krieg verhindern können, wenn wir unsere bequeme Leichtgläubigkeit behalten. Hannah Arendt sagte: „Dieses ständige Lügen zielt nicht darauf ab, das Volk eine Lüge glauben zu machen, sondern darauf, dass niemand mehr irgendetwas glaubt. Ein Volk, das nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann, kann auch nicht zwischen richtig und falsch unterscheiden. Und ein solches Volk, das sich seiner Macht, zu denken und zu urteilen, beraubt sieht, ist auch, ohne zu wissen und zu wollen, dem Gesetz der Lüge vollständig unterworfen. Mit einem solchen Volk kann man dann machen, was man will.“

Wie geht die Schlange mit dieser Herausforderung um – in vielen alten Kulturen ein Symbol für Leben, Eros, Heilung? Eine Schlange wächst ihr ganzes Leben weiter, ihre Haut aber nicht. Um sich weiterzuentwickeln, muss sie aus der Haut fahren! Wenn es so weit ist, wird sie schwach und träge, ihre Augen werden trübe, sie wird hilflos und sucht sich einen geschützten Platz, denn sie kann sich nicht gegen Frassfeinde wehren. Es sieht von aussen so aus, als sterbe sie. Was stirbt, ist aber nur die alte Haut. Die Schlange lebt – und kommt frisch und stark und grösser als bisher zum Vorschein.

 

Meine eigene Narrativ-Erfahrung

Können wir das auch? Ich möchte dazu von meinem eigenen Prozess berichten. In ziemlich exakt derselben Zeit, in der fast die ganze Menschheit entmündigt und unter Hausarrest gestellt wurde, erlebte ich eine Gehirnwäsche anderer Art: Es zog mich, nach 18 Jahren Tamera in Portugal, in eine Gruppe in Deutschland, die ich erst viel zu spät als toxisch erkannte. Deren Machtdynamiken, Manipulationen und psychische Gewalt nahm ich als etwas ruppige, aber notwendige Arbeit an unseren Schatten, also den unbewussten Kriegsdynamiken wahr. Erst als physische Gewalt hinzukam, wachte ich auf und ging. Und zwar zunächst ins Nichts – ohne Wohnung, ohne Geld, ohne Arbeit und ohne sicher zu wissen, was mich auffangen würde. Aber mit einem entschlossenen Freiheitsdrang. Es war, als wäre mein vitaler, ethischer Kern wieder an die Oberfläche gekommen, der ganz genau weiss, was richtig und falsch ist.

Meine Hauptlehre aus dieser Zeit ist diese: Viele Gruppen entwickeln etwas, das ich Binnenwahrheiten nenne. Wissenschaftlich spricht man von Narrativ. Das ist nicht nur bei klassischen Sekten der Fall – sondern auch in unserer ganz normalen Gesellschaft. Wir sind soziale Wesen. Wir orientieren uns aneinander. Die meisten von uns binden sich – und passen sich einander an. Empfinden etwas als wahr und richtig, wenn es alle anderen um uns als wahr und richtig finden und es von allen Seiten so bestätigt wird. Wenn es ständig wiederholt wird, wenn Nachfragen, andere Wahrnehmungen und Widerspruch mit sozialer Ächtung belegt werden, wenn der Kontakt nach aussen immer mehr begrenzt oder lächerlich gemacht wird, ist es recht wahrscheinlich, dass wir uns unbewusst dem Narrativ unterwerfen. Ich erinnere an die Konformitätsexperimente von Ash (bitte im Internet nachschlagen).

Es ist für mich immer noch schwer verzeihlich, dass ich so lange in diesem Bann blieb – nur erklärbar dadurch, dass ich sehr gerne vertraue. Jedenfalls dachte ich, ich hätte diesen Menschen tief vertraut. In Wirklichkeit war, was ich Vertrauen nannte, Verantwortungsabgabe.

Es war Arbeit, mir das klar zu machen. Es war Arbeit, Verantwortung und Vertrauen wieder zu mir zurückzuholen. Es ist immer noch Arbeit, nicht darüber zu Gericht zu sitzen und weder mich noch sie zu verurteilen – sondern wirklich loszulassen.

Wie es Matias Desmet in dem lesenswerten Buch über totalitäre Systeme sagt: Meistens handeln die Anführer toxischer Gruppen (also z.B. auch Hitler) aus ihrer Sicht aus den richtigen Motiven. D.h. sie glauben selbst an ihre Ideologie. Das macht es so schwierig, sich ihnen zu entziehen. Das ist die Arbeit, die wir jetzt alle zu tun haben: Wir müssen uns von vielen angenommenen, durch Bindung entstandenen Scheinwahrheiten lösen – wie die Schlange aus der Haut – wie die Hopi-Schwimmer vom Ufer – um wieder Realität zu erkennen. Ich spreche nicht mehr nur von meiner unbedeutenden Mikrosekte. Ich spreche von dem Ausstieg aus den Narrativen unserer Gesellschaft und den Mechanismen, wie diese aufrecht erhalten werden.

Sich in so einer Situation wirklich eine eigene Meinung zu bilden und herauszufinden, was stimmt, ist alles andere als bequem. Es bedeutet nicht, sich jetzt neuen Narrativen anzupassen und zu unterwerfen. Wir müssen lernen, Fakten anzuerkennen – ein Prozess, der Mut erfordert – denn wir müssen lernen, etwas zu entmachten, das Entwicklungspsychologen Bindungstrauma nennen. Wir müssen riskieren, die Menschen mit unserer Wahrnehmung oder Meinung diejenigen zu nerven oder zu enttäuschen, die uns wichtig sind. Autoritäten, Familienmitglieder, Geliebte, Parteigänger, Mehrheiten.

Wenn wir dies in einem fühlenden Miteinander, einem offenen Dialog tun können, haben wir eine Chance auf echte Gemeinschaftsbildung. Eine, wo das Ich im Wir nicht verloren geht – und auch nicht das Wir vor lauter Egos. Denn Gemeinschaften leben nicht von der Einigkeit. Sie leben von den Unterschieden. Von der Reibungswärme, die entsteht, wenn Unstimmigkeiten ausgesprochen und integriert werden. Dieter Duhm schreibt in seinem Buch Terra Nova: „Das Individuum ist ein Gemeinschaftsunternehmen.“

Ich fühle mich inzwischen durch meine Sekten-Erfahrung bereichert. Ich habe unendlich viel gelernt und mich aus einem Narrativ befreit, das mir für eine kurze Weile zur zweiten Haut geworden war. Aus eigener Kraft, aber mit der Hilfe von Freunden. Ich habe meine Orientierung wieder gefunden – und kann sie jetzt anderen geben.

Eine Freundin, die einen ähnlichen Weg ging, sagte mir: Loslassen tut weh. Ich fühlte mich ein, dachte darüber nach und merkte: Nein, Loslassen ist leicht. Festhalten tut weh. Jedenfalls wenn der Fluss steigt oder immer reissender wird.

 

Eine neue Tür öffnet sich, wenn die alte sich schliesst

Dass der Fluss des Lebens uns tragen wird, wenn wir alle Scheinsicherheiten losgelassen haben, können wir vorher nicht wissen. Wir müssen schon loslassen, um diese Erfahrung zu machen. Ein Freund, der in der Corona-Zeit seinen Job beim Fernsehen aufgegeben hatte, sagte: „Wenn du eine Tür schliesst, dann öffnet sich eine andere.“ Er musste dann aber an viele Türen klopfen und war teilweise so verletzlich wie die Schlange während der Häutung. Aber zurück wollte er nicht mehr. Die alte Haut der Scheinsicherheit war zu eng geworden.

 

Über

Christa Leila Dregger

Submitted by cld on Sa, 09/17/2022 - 12:37

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
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Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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