Hauptsache krank?
Ein neuer Blick auf die Medizin in Europa. Interview mit dem Radiologen und Medizinautor Dr. Gerd Reuther.
Dr. Gerd Reuther
Dr. Gerd Reuther. Foto: zVg

Zeitpunkt: Ihr neuestes Buch «Hauptsache krank» thematisiert die Geschichte der europäischen Medizin. Was motiviert Sie zu diesem historischen Blick auf unsere Heilkunde?

Dr. Gerd Reuther: Bereits während der Arbeit an meinem Buch «Der betrogene Patient» aus dem Jahr 2017 stiess ich auf historische Bezüge. Der Schlüssel für vieles, was uns heute im Bereich Medizin begegnet, liegt in der Vergangenheit. So stützte sich die europäische Medizin über Jahrhunderte auf das Dogma der «Säftelehre». Man sah in einem unausgewogenen «Säftehaushalt» des Körpers die Ursache von Krankheiten. Unter Körpersäften verstand man Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Jedem Körpersaft wurden charakteristische Qualitäten wie heiss oder kalt, trocken oder nass zugeschrieben. Dementsprechend wurde behandelt: Aderlass, Entzug von Wasser und Luft, Brechmittel, Abführmittel – häufig nicht zum Wohle des Patienten. 

Dann kam im 19. Jahrhundert der Kipppunkt hin zur Naturwissenschaft. Es hat sich damals zum Glück einiges geändert, aber es gibt Kontinuitäten, auf die ich in meinem neuen Buch eingehe. Ein Beispiel dafür ist die renommierte Fachzeitschrift für Medizin «The Lancet», die sich am alten Muster des Aderlasses orientiert und mit der Lanzette titelt, die man zur Blutentnahme verwendete. Häufiger Aderlass muss jedoch kritisch gesehen werden, denn er hat damals so manchen Patienten regelrecht entkräftet sterben lassen.

Ich beziehe in meinen historischen Analysen den gesellschaftlichen Hintergrund mit ein. Zum Beispiel wird in dem ebenfalls sehr aktuellen Buch «Hauptsache Panik. Ein neuer Blick auf Pandemien in Europa » (2023), das ich zusammen mit meiner Frau, die Kulturhistorikerin ist, geschrieben habe, deutlich, dass ein Seuchennarrativ meist auch mit Machtausübung und Vermögensumverteilung einhergeht. Man kann sich nicht nur auf Veränderungen innerhalb des Bereichs Medizin beschränken, wenn man ein Phänomen wie die Corona-Pandemie differenziert erfassen möchte. Bei Corona wurden übrigens viele Dogmen ohne jegliche Evidenz in die Welt gesetzt – und die meisten der 400 000 Ärzte in Deutschland unterwarfen sich diesen medizinischen Dogmen genauso gefügig wie ihre Berufskollegen anno 1300.

Volksmedizin war indigene Medizin.

 

Welche Arzneimittel und Heilverfahren hatten unsere Vorfahren in alter Zeit? Gab es damals schon bestimmte Berufsgruppen, die ihre Mitmenschen verarzteten?

Gesund werden hatte schon immer hauptsächlich mit unseren Selbstheilungskräften zu tun. Aber es gab zur Unterstützung Heilpflanzen, die beispielsweise antibiotische Wirkungen hatten oder pflanzliches Aspirin. Der berühmte Ötzi, eine jahrtausendealte Gletschermumie, die in Südtirol gefunden wurde, hatte bereits Heilpflanzen im Reisegepäck. Das waren Hausmittel, wie sie auch die Kräuterfrauen anwandten. Hirten und Scharfrichter kannten sich bei Knochenbrüchen aus. Barbiere und Bader machten kleine Operationen und zogen Zähne. Das war die indigene Medizin, die Volksmedizin. Manche Heiler arbeiteten mit dem Placebo-Effekt, zum Beispiel die Steinschneider. Sie untersuchten Schwellungen oder Abszesse am Körper und präsentierten dem Patienten nach der Untersuchung einen Stein, den sie angeblich aus dem Körper herausgeholt hätten. Dabei hatten sie diesen vorher am Wegesrand aufgelesen. Das Denkmodell war: Die Krankheit befällt den Körper über Kräfte von aussen, und man muss sie wieder aus dem Körper herausholen. Manche Placebo-Heiler hatten eine religiöse Aura. Und immer schon gab es jüdische Heilerdynastien, die undogmatisch vorgingen bei ihren Behandlungen und Ärzte innerhalb der Familien ausbildeten.

Die Kirche überliess das Heilen Gott und den passenden Heiligen, integrierte aber dann die Heilpflanzen in ihre Klostergärten und fing an, die Kräuterfrauen zu kriminalisieren. Dies wurde mit der «Hexen»-Verfolgung ab Ende des 15. Jahrhunderts flächendeckend umgesetzt. Mit der angeblichen Notwendigkeit für eine «letzte Ölung» vor dem Ableben beanspruchte die katholische Kirche das Monopol für die Sterbebegleitung. Von den Sterbenden erhielt sie Schenkungen und erbte so manches Vermögen. Testamente wurden auch zugunsten der Kirche gefälscht. Die «letzte Ölung» nach der getätigten Unterschrift konnte man in etlichen Fällen durchaus als aktive Sterbehilfe bezeichnen. 

Viren boten sich seit damals als vielseitige und beliebte Projektionsfläche für Angst und Panik an

Ab wann kam es zu einer regulären Ausbildung der Ärzte? Welche entscheidenden Heilmethoden wandten die «studierten» Ärzte durch die Jahrhunderte an?

Die ersten medizinischen Fakultäten entstanden unter den Fittichen der Kirche im 13. Jahrhundert in Italien und Frankreich. Mönchsschulen wurden zu Ausbildungsstätten umfunktioniert; und das Wissen, das dort vermittelt wurde, führte man auf einen in Rom tätigen griechischen Arzt namens Galenos sowie den griechischen Heiler Hippokrates zurück. Mit diesen beiden Galionsfiguren schaffte man eine pseudo-römische und -griechische Medizintradition, die über Jahrhunderte gültig blieb. Die Diagnose lautete in der Regel entweder Plethora, Blutüberfülle, oder Dyspepsie, Verdauungsstörung. Der Kranke war selbst schuld. Man musste eben «das Gift ablassen». 

Aderlass war dafür das Allheilmittel. Man zapfte dem Kranken manchmal 500 bis 700 Milliliter Blut ab, wiederholte den Vorgang und liess den Patienten so regelrecht ausbluten. Damit wurde die christliche Medizin extrem schädlich. Man spricht auch von ihrem «Privileg der straflosen Tötung». Ärzte liessen sich instrumentalisieren. Natürlich gab es auch kritische Stimmen unter den Ärzten, aber man hielt dennoch über Jahrhunderte am Aderlass fest. Erst nach dem Ersten Weltkrieg hörte man damit auf.

Polio war eine Erkrankung mit Lähmungserscheinungen und wurde einem Virus zugeschoben, dabei war die Ursache eine Vergiftung durch Pestizide. 

Wie veränderte sich die Medizin in der Neuzeit? Kam es zu mehr Wissenschaftlichkeit?

Ende des 19. Jahrhundert kamen mit der Keimtheorie und den Forschern Robert Koch und Louis Pasteur die Mikroben ins Feld, und der Krieg gegen sie begann. Seitdem «bekämpfen» wir Krankheiten. Ein gewisser Militarismus wird hier deutlich. Kein Wunder, denn viele Ärzte hatten damals auf Militärakademien studiert und als Feldärzte gearbeitet. Sie übertrugen ihr militärisches Denken auf ihre medizinische Praxis und gaben den «unsichtbaren Feinden» mit den Medikamenten und Impfungen aus der neu entstehenden pharmazeutischen Industrie volle Breitseite. Dabei kam es schon einmal zu Fehlgriffen wie der Polio-Impfung. Polio war eine Erkrankung mit Lähmungserscheinungen und wurde einem Virus zugeschoben, dabei war die Ursache eine Vergiftung durch Pestizide. Viren boten sich seit damals als vielseitige und beliebte Projektionsfläche für Angst und Panik an und sorgen bis heute dafür, dass vor allem die Kassen der Pharmaindustrie klingeln.

Einfache und einleuchtende Lösungen gegen Mikroben hingegen setzten sich nur schwer durch. Es dauerte viel zu lange, bis die Händehygiene für Ärzte ein absolutes Muss darstellte. Vorher mussten tausende Frauen am «Kindbettfieber» oder Patienten am «Hospitalfieber und Wundbrand» sterben. Florence Nightingale übernahm 1845 mit ihren gut geschulten Krankenschwestern die Pflege der Soldaten im Militärkrankenhaus auf der Krim und entpflichtete die Ärzte. Die Sterberate sank dadurch von 42 auf zwei Prozent!

Wie kann es sein, dass sich die Schulmedizin trotz dieser nachdenklich stimmenden Bilanz so breiter Akzeptanz erfreut?

In Deutschland hat aktuell jeder Einwohner etwa zehn Arztkontakte pro Jahr. Man verspricht sich zu viel von den Ärzten. Bei Atemwegserkrankungen sollte man erst einmal nicht ins Krankenhaus gehen, sondern zu Hause im Bett bleiben. Vor vierhundert Jahren lästerte der Theatermann Molière noch über die Ärzte, die durch ihr Aderlassen, Schröpfen und Purgieren selbst dem Sonnenkönig zusetzten. 

Das Image der Ärzte war damals nicht besonders gut. Sie verkörperten die Obrigkeit als Stadtärzte oder Leibärzte der Oberschicht. Interne Kommissionen straften aber auch die Ärzte ab, die sich nicht an die herrschenden Dogmen hielten. Heute wird nach Leitlinien behandelt, die zu wenig hinterfragt werden, denkt man an die tödlichen Hydroxochloroquin-Dosen, die man in der Coronazeit empfahl. Das Hydroxychloroquin wurde in der Dosierung im Protokoll der WHO festgeschrieben. Diese Dosierung von mehreren Gramm lag über der tödlichen Dosis. Ob dies Absicht oder Unkenntnis des Verantwortlichen der WHO war, ist bis heute nicht geklärt. Tatsache ist, dass die Dosierempfehlung tödlich war. Der Arzt ist bis heute für viele Patienten ein «Gott in Weiss», dem man nicht widersprechen darf. Jeder dritte Tod war bereits vor Corona ein medizinischer Tod, also auf Medikations- oder Behandlungsfehler zurückzuführen.

Wie sähe eine Medizin aus, die den Patienten und letztlich auch der Berufsehre der Ärzte dient?

Wenn man krank ist, sollte man auf die Selbstheilung vertrauen und sich Zeit nehmen. Ein guter Arzt ist demütig und weiss, dass er die Heilung nur unterstützen kann. Die Selbstbestimmung des Patienten darf nicht angetastet werden. Gegen diesen Grundsatz hat die Ärzteschaft leider immer wieder verstossen und tut es auch heute noch. Der Mensch bzw. Patient darf nicht zur Ware werden. Empathie ist wichtig. Um den «stillen Patienten», der nicht laut klagt und jammert, muss man sich besonders kümmern. Das Vorgehen darf kein mechanisiertes sein. Es geht um individuelle Betreuung, sonst erübrigt sich der Ärztestand. Eine gute Maxime hatte der berühmte Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762 bis 1836): «Verhalte dich in deinem Dienst am kranken Menschen und im Umgang mit ihm so, wie du selbst wünschtest, behandelt zu werden.»
 


Gerd Reuther ist Facharzt für Radiologie und Medizinhistoriker. 2005 erhielt für seine Leistungen den Eugenie-und-Felix-Wachsmann-Preis der Deutschen Röntgengesellschaft. Er veröffentlichte rund 100 Beiträge in nationalen und internationalen Fachzeitschriften und -büchern sowie fünf Bücher, die sich kritisch mit der Medizin in Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen. 

Sein neues Buch «Hauptsache krank? Ein neuer Blick auf die Medizin in Europa», ist erschienen im Engelsdorfer Verlag in Leipzig und ab sofort im Buchhandel erhältlich. Mehr Informationen zum Buch unter: untitled (engelsdorfer-verlag.de)


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