«I will not give up on you!»
Die erste Liebe zwischen zwei Menschen ist eine schöne Erinnerung. Manchmal, im späteren Leben, wird daraus eine Freundschaft. Doch die Zeiten sind nicht immer harmonisch. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Die erste Liebe, auch wenn sie viele Jahrzehnte her ist, bleibt für immer etwas Besonderes. Die erste scheue Annäherung, das plötzliche Klopfen des Herzens, die Hochspannung vor dem ersten Kuss, das alles brennt sich uns ein als eine Erfahrung, die sich nicht wiederholen lässt. Sie hiess Iris, sie kam aus London, und ich habe von ihr schon erzählt. Ich habe erzählt, wie alles begann, wie wir das Glück des Siebten Himmels entdeckten – und wie die Unschuld der ersten Verliebtheit an der Schwelle zur Liebe scheiterte.
Eine Beziehung – was für ein ernstes Wort – durfte nicht daraus werden. Wir waren zu jung und flüchteten betroffen zurück in unsere Leben. An diesem Punkt wird die erste Liebe für viele zur blossen süssen Erinnerung. Doch andere wollen sie nicht vergessen, gerade weil sie so unrealistisch gewesen ist, so träumerisch und so rein. Deshalb bleiben sie im Kontakt miteinander.
So ging es auch Iris und mir. Eine Weile verloren wir uns aus den Augen. Wir mussten erwachsen werden, jedes in seinem Leben, Iris in London, ich in der Schweiz. Auf diese Weise vergingen die Jahre. Iris wanderte in die USA aus; das war das einzige, was ich von ihr noch erfuhr. Zwischen uns lag nun ein Ozean. Wir lebten in verschiedenen Welten. Diese Welten überschnitten sich nicht. Der einzige Schnittpunkt war die Erinnerung an jene wundervollen Gefühle, die wir gemeinsam erleben durften. Diese Bilder blieben lebendig.
Irgendwann fand ich ihre Adresse heraus, und ich schrieb ihr. Ich wollte einfach nur wissen, wie es ihr geht. Dahinter stand Interesse, vielleicht Nostalgie, aber auch der Wunsch nach Gewissheit, dass es dem Mädchen von damals gut geht. Postwendend schrieb sie zurück. Sie hatte – so wie ich – die Liebe ihres Lebens gefunden, sie hatte geheiratet und war Mutter geworden. Iris war glücklich mit ihrem Mann, ich war glücklich mit Julia. So konnten wir Freunde werden. Brieffreunde.
Wir schrieben uns mindestens einmal pro Jahr. Mindestens zum Geburtstag. Die ersten Briefe waren noch richtige Briefe, mit einer Marke und einem Stempel. Dann wechselten wir zur elektronischen Post. Wir erzählten uns, wie wir lebten, berichteten von unseren Kindern und sprachen auch offen aus, was uns ganz persönlich bewegte. Von unseren Ehepartnern schrieben wir wenig. Es war eine stille Vereinbarung. Wir wollten die Gefühle von damals schützen.
Als Iris wieder einmal nach Europa kam, nach Italien, und ihr Mann schon früher zurückfliegen musste, trafen wir uns bei Freunden von ihr im Tessin. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten standen wir uns gegenüber. Was werde ich wohl empfinden, hatte ich mich gefragt, unterwegs zu unserem Wiedersehen. Wir empfanden Vertrautheit. Eine grosse Vertrautheit, wie sie nur möglich ist zwischen zwei Menschen, die sich einmal ganz nahe gekommen sind. In einer wichtigen Zeit ihres Lebens.
Nach dieser Begegnung, die sich vom ersten Augenblick an so natürlich entwickelte, als hätte es keine Jahrzehnte dazwischen gegeben, schrieben wir uns weiterhin Briefe. Briefe per Mail, ein bis zwei jedes Jahr. Doch deren Länge nahm zu – und auch die Ehrlichkeit ihres Inhalts. Was uns antrieb, war längst nicht mehr nur die Erinnerung, sondern eine Verbundenheit, die den Atlantik, der zwischen uns lag, leichtfüssig überwand.
*
So hätte es weitergehen können, von Jahr zu Jahr und von Mail zu Mail. Doch der Mensch ist nicht auf die Welt gekommen, um den Dingen ihren harmonischen Lauf zu lassen. Es folgte das Jahr 2020. Es folgte Corona.
Ende März 2020, mitten im weltweiten Lockdown, gratulierte mir Iris wie immer zu meinem Geburtstag. Sie beschrieb mir in ihrer bildreichen Sprache, wie auch in den USA alles stillstand. Aber sie äusserte sich nicht kritisch über die vom Staat verordneten Massnahmen.
In meiner Antwort Mitte April versuchte ich in Worte zu fassen, was ich selber empfand:
This goddamn Corona situation paralyzes us already for weeks now and isn’t just a bad dream, when we wake up in the morning. The dictatorial measures taken also by the Swiss government will overshadow our lives for a longer time that we can ever expect, as well as the oppression of any alternative information about the virus. But what shocks me most, is the blindness with which the vast majority of the Swiss people follows the government orders.
(«Diese gottverdammte Corona-Situation lähmt uns nun schon seit Wochen und ist nicht nur ein schlechter Traum, wenn wir morgens aufwachen. Die diktatorischen Massnahmen, die auch die Schweizer Regierung ergreift, werden unser Leben für eine längere Zeit überschatten, als wir jemals erwarten können, ebenso wie die Unterdrückung jeglicher alternativer Informationen über das Virus. Aber was mich am meisten schockiert, ist die Blindheit, mit der die große Mehrheit der Schweizer Bevölkerung den Anweisungen der Regierung folgt.»)
Die Antwort von Iris, wenige Wochen später, war auf schmerzliche Weise ernüchternd. Sie hatte nicht das geringste Verständnis für die Kritik an der Corona-Politik der Behörden. Für meine Einstellung hatte sie nur ein Kopfschütteln übrig. Sie war richtig entsetzt über mich.
Damit hatte ich rechnen müssen. Ich konnte von ihr nicht erwarten, dass sie dasselbe dachte wie ich. Es durfte mir nicht besser ergehen als all den anderen freiheitlich denkenden Menschen, die sich von ihren Freunden und Liebsten unverstanden und abgelehnt fühlten. Trotzdem gab ich mir einen Ruck und versuchte Iris in einem langen Brief meinen Standpunkt näherzubringen.
Ich erhielt keine Antwort. Auch unsere Freundschaft, so kam es mir vor, war dem Virus zum Opfer gefallen. Viele Monate lang, während die Welt sich immer verrückter drehte, herrschte Funkstille zwischen uns. Erst im zweiten Corona-Jahr unternahm ich einen Versuch, das Schweigen zu brechen. Ich erkundigte mich bei Iris, ob sie meine Post vom vorherigen Jahr jemals erhalten hätte? Und ich schloss mein kurzes Mail mit den Worten:
Dear Iris, the world has changed dramatically – but I’m still the same!
Diesmal folgte ihre Antwort sofort. Doch sie argumentierte nicht, sondern rückte mich, beissend humorvoll, in die Nähe der «Verschwörungstheoretiker». Und etwas später im Jahr brachte sie ihre Besorgnis zum Ausdruck, dass ich mich «von der Realität verabschiedet» hätte.
Diese Worte taten weh. Nun brauchte ich etwas Zeit. Ausserdem war ich beleidigt. Was fiel ihr ein, so mit mir zu reden? Ende Jahr, im Advent raffte ich mich dazu auf, Iris wie immer zu gratulieren. Doch ich begann mein Mail mit den Worten:
Dearest Iris, I fear, for the moment, we have lost each other. There’s no sense in argueing anymore, like I did in my last letter a year ago. The division all over the world separating families, friends and couples doesn’t stop even in front of the eternal innocence of a first love. That makes me so sad and sober that I don’t even find any proper words for your birthday.
(«Liebste Iris, ich fürchte, wir haben uns im Moment verloren. Es hat keinen Sinn, weiter zu argumentieren, wie ich es in meinem letzten Brief vor einem Jahr getan habe. Die Trennung auf der ganzen Welt, die Familien, Freunde und Paare voneinander trennt, macht auch vor der ewigen Unschuld einer ersten Liebe nicht halt. Das macht mich so traurig und nüchtern, dass ich nicht einmal für deinen Geburtstag die richtigen Worte finde.»)
Iris gab keine Antwort. Wahrscheinlich konnte sie immer noch nicht begreifen, warum ich so anders dachte als sie. Und weil sie es nicht begreifen konnte, blieb sie für einmal sprachlos. Was bei ihrem Temperament etwas heissen will.
Auch 2022 - im dritten Jahr von Corona – hielten wir daran fest, uns gegenseitig Happy Birthday zu wünschen. Doch die Motivation für längere Briefe, die Bereitschaft, einander zuzuhören, fehlte uns beiden. Wir beschränkten uns auf wenige lockere Sätze – eine Nähe vortäuschend, die wir nicht spürten.
2023, als sich die Lage an der Virenfront endlich entspannte, hätten wir uns vielleicht wieder finden können. Doch Iris sah, was ich schrieb und veröffentlichte. Sie liess es sich digital übersetzen und las es. Und was auch immer ich publizierte, ob ich mich zur Ukraine äusserte, zum Klimawandel oder zur Cancel Culture: Ich wusste, sie war dagegen. Sie ist eine amerikanische Intellektuelle und lebt in Kreisen, die demokratisch wählen. Sie sieht die Welt anders als ich, das war mir schon lange bewusst. Doch es war mir egal. Die Weltanschauung ist wichtig.
Freundschaften sind mir wichtiger.
*
Aber das Leben kann manchmal hartnäckig sein. Es will uns prüfen – auch Iris und mich. Es will von uns wissen, wieviel unsere Freundschaft erträgt. Denn meine Brieffreundin aus Amerika hat jüdische Wurzeln. Und seit dem 8. Oktober des letzten Jahres, als die Hamas nahezu 1200 Menschen in Israel tötete und mehrere hundert Geiseln verschleppte, leidet Iris mit Israel mehr denn je. Ich erhielt einen Brief von ihr. Nicht zum Geburtstag. Sie schrieb mir, nachdem sie eine Kolumne von mir gelesen hatte. Eine Kolumne zu Palästina. In ihrem Brief klagt sie mich an. Weil ich nicht von den 1200 israelischen Toten und nicht von den Geiseln schreibe, sondern von den 45 000 palästinensischen Toten in Gaza.
Ich verstehe Iris, und das meine ich ehrlich. Ich habe auch deshalb Verständnis für ihre Haltung, weil sie Verwandte in Israel hat. Aber sie will mich nicht verstehen. Jedes Recht spricht sie mir ab, über Israel zu befinden – und warum? Weil ich kein Angehöriger des jüdischen Volkes bin. Sie verurteilt mich, obwohl Zehntausende von jüdischen Menschen in Israel und Hunderttausende «Juden für Palästina» überall in der Welt dasselbe sagen wie ich. Sie kritisieren die aggressive Politik des israelischen Staates. Sie fordern Gerechtigkeit für die Palästinenser. Doch Iris will das alles nicht wissen. Ihre ganze Sorge gilt Israel.
Zu meinem Geburtstag im Frühling des Jahres gratulierte sie mir, «obwohl wir in fast allen Fragen unterschiedlicher Meinung sind und ich manchmal denke, dass du auf der falschen Seite der Geschichte stehst.»
Ich las ihre Zeilen und fragte mich: Würde ich ihr jemals sagen, dass sie «auf der falschen Seite der Geschichte» steht? Niemals würde ich ihr so etwas sagen. Unsere Vertrautheit, die ich für unantastbar gehalten hatte, bekam in diesem Moment einen winzigen Riss. Wann immer ich seither an Iris dachte, mischte sich in die Erinnerung so etwas wie Bitterkeit.
Und zum ersten Mal seit vielen Jahren habe ich jetzt, im Advent, ihren Geburtstag vergessen. Ich habe ihn einfach vergessen.
Viele Tage später fiel es mir plötzlich ein. Das wollte ich nicht. Iris vergessen – das darf nicht sein. Ich blätterte noch einmal zurück bis zu meinem Geburtstag. Ich wollte noch einmal lesen, was mir Iris im Frühling geschrieben hatte. Diesmal las ich den Satz bis zum Ende:
Although we disagree on almost everything, and sometimes I think you are on the wrong side of history, I will not give up on you!
Den letzten Teil des Satzes hatte ich überlesen. Jetzt stand er in seiner ganzen schlichten Bedeutung vor mir: «Ich werde dich nicht aufgeben!»
Liebe Iris, das werde auch ich nicht. Die Politik darf uns nicht auseinander bringen. Es darf der Welt nicht gelingen, den ersten Kuss seiner Kostbarkeit zu berauben.
Vom Autor soeben erschienen:«Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli
Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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