Was bisher geschah: Die Hauptstadt der Steinzeit - Der Neandertaler - Das Hotel Cro Magnon - Die Grotte des Zauberers - Der Handwerker aus der Steinzeit - Die Höhle der 100 Mammute - Der Heilige Weg - Das Grosse Wesen - Das Dornröschenschloss
Am folgenden Morgen stossen wir in Les Eyzies zwischen Souvenirläden auf ein kleines Immobilienbüro. «Kauf und Verkauf von historischen Liegenschaften» steht auf dem Ladenschild. Im Schaufenster sind einige dieser käuflichen Objekte abgebildet, und überraschend findet sich auch das von uns entdeckte Schloss unter ihnen. Mit Umschwung und Nebengebäuden ist es für 2,4 Millionen Francs zu erwerben, was lediglich 600 000 Schweizer Franken entspricht.
Die Besitzerin, eine Erbengemeinschaft in Paris, wolle das Schloss schon lange verkaufen, erklärt uns der Immbolienagent. Im gegenwärtigen Zustand, fügt er offen hinzu, wäre es allerdings unbewohnbar.
Wir aber stehen wieder draussen vor dem Schaufenster und träumen davon, in einem richtigen Schloss zu leben. Es brauchte kein so grosses zu sein, ein Schlösschen wurde genügen: Bereits für 350 000 Franken wäre ein solches erhältlich — eine echte Ritterburg sogar schon ab 200 000.
Zuhause, in der Schweiz, haben wir selten mit diesen Gedanken gespielt. Wir hatten uns damit abgefunden, dass man heutzutage nicht mehr in Burgen und Schlössern wohnt. Doch hier, in dieser Landschaft, wird der Wunsch in uns wach, in Jahrhunderte zurückzukehren, die uns trotz ihrer Ferne merkwürdig vertraut sind.
Wahrscheinlich ist es kein wirklicher Wunsch, eher eine Wehmut nach der Vergangenheit. Was wir empfinden, ist die schöne und zugleich schmerzende Sehnsucht nach einer Zeit, die wir kennen. Sie liegt uns näher als die Ungewissheit der Zukunft.
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Auf unseren Streifzügen in den nun folgenden Tagen machen wir reiche Beute, finden weitere Adelssitze und Raubritterneste, Gotteshäuser, Gräber und Kreuze aus alter Zeit, schlagen verschwiegene Pfade ein, stehen vor rätselhaften Wegweisern und stossen auf verschlossene Tore und Pforten, die zu öffnen wir kaum widerstehen können. Wir wandern durch 15 000 vergangene, in Friedenszeiten verblühte, in Kriegen verblutete Jahre, wir begegnen dem Rokkoko und der Renaissance, durchqueren das Mittelalter, die Römerzeit, die Epoche der Kelten, die Bronzezeit und erreichen wieder die Höhlen die Steinzeit.
Einige Male freilich stellt uns das 20. Jahrhundert ein Bein, und wir stolpern, vergangenheitstrunken und irritiert, zurück in die Gegenwart. So geraten wir unterwegs, in einem Waldstück, an einem dieser Tage zu einer Abzweigung, der wir zu folgen beschliessen, gespannt, wohin sie uns diesmal führen werde. Bald kommen wir auf eine Lichtung hinaus — und werden Zeugen eines wilden, stummen Kampfes zwischen einem lebensgrossen Mammut und seinen Jägern.
Der zottige Koloss ist in eine Falle eingebrochen und versucht sich vergeblich daraus zu befreien, während die halbnackten, nur mit Fellen bekleideten Steinzeitmenschen in grosser Aufregung dem Tier zu Leibe rücken und ihre Speere in seinen Körper rammen. Wir berühren die Menschen und stellen fest, dass sie alle, ebenso wie das Mammut, aus Kunststoff sind. Nachdem wir auf weitere, ähnliche Szenen gestossen sind, gelangen wir endlich zu einem Blockhaus, wo ein Handwerker damit beschäftigt ist, eine Tafel mit der Aufschrift «Caisse» anzubringen. Von ihm erfahren wir, dass dies ein «prähistorischer Park» sei, der in wenigen Tagen eröffnet werde.
Wir nehmen die Auskunft dankend zur Kenntnis - und haben den ernsthaften Eindruck, dass sich die moderne Zeit über uns lustig macht. Ich nehme es ihr nicht übel. Auch ich muss ein wenig darüber lachen, wie vergangenheitstrunken mich dieser Aufenthalt macht. Vielleicht hat die Gegenwart recht, mich mitten im Gestern daran zu erinnern, dass ich ins Heute gehöre.
Wir stossen auf eine weitere Plastikfigur, die uns das prähistorische Disneyland präsentiert. Diesmal ist es eine kräftige Männergestalt, die mit einem blossen Faustkeil bewaffnet den Angriff eines Bären abzuwehren versucht. Als der hochaufgerichtete Bär uns kommen hört, wendet er sich von seinem Opfer ab und schaut verdutzt zu uns herüber. Auch der Steinzeitmensch vergisst bei unserem Anblick, in welcher Gefahr er sich eben befand: Seine angstverzerrte Miene wandelt sich zu einem ungläubigen Staunen angesichts der fremdartigen Menschenwesen, die da aufgetaucht sind. Und so staunen sie alle beide, er und der Bär, gucken verständnislos in unsere Richtung und merken nicht, dass zwischen ihnen und uns Jahrtausende liegen.
Der «prähistorische Park» bleibt jedoch nicht der einzige Ort, an dem wir solches erleben. Immer wieder in diesen Tagen begegnen uns die Menschen und Tiere der Steinzeit, einige in furchterregender Lebensgrösse, die meisten freilich bloss in verkleinerter Form: Steinzeitfiguren aus Holz, grimmige Höhlenbewohner als Schlüsselanhänger, kleine Mammuts als Briefbeschwerer, prähistorische Witzfiguren auf Ansichtskarten, Bilderbücher der Helden von damals mit packenden, realistisch gezeichneten Darstellungen. Was wir in den Höhlen bisher vergeblich suchten — hier werden wir fündig, so haben die Menschen von Cro-Magnon ausgesehen, so haben sie gelebt und gekämpft. Wir brauchen nicht länger unsere eigene Vorstellungswelt zu bemühen: Das 20. Jahrhundert weiss wieder einmal alles viel besser.
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Natürlich besuchen wir auch die berühmte Höhle von Lascaux. Als wir ankommen, sind die Parkplätze mit Autos und Reisecars bis an die Strasse hinunter belegt, und eine emsige Ferienlagerstimmung erfüllt das Diesseits: Nicht nur die Touristen, auch sämtliche französischen Schulklassen und Betriebsausflüge haben, so scheint es, die Steinzeit in ihrem Programm.
Allgemeines Ziel ist eine Tafel mit der Aufschrift «Lascaux: Entree», neben der ein Betonschacht ins Erdinnere führt. So haben wir uns den Eingang zu dieser Höhle nicht vorgestellt; eher kommt es uns vor, als würde man durch den Schacht in den Kellerraum eines Wohnblocks gelangen. Wir lassen uns jedoch nicht entmutigen und reihen uns in die Kolonne der Wartenden ein, die sich in regelmässigen Schüben vorwärtsbewegt.
Jedesmal dann, wenn über der Grotte ein grünes Lämpchen zu blinken beginnt, folgt der nächste Schub, und sogleich gerät die Warteschlange in erhebliche Aufregung: Franzosen und Fremde, prähistorisch Interessierte, kichernd sich schubsende Schüler, zur Ordnung mahnende Lehrer - alles schiebt, alles drängt, und endlich ist es soweit: Nachdem auch wir auf diese Weise 20 Minuten lang vorgerückt sind, dürfen wir uns um 20 000 Jahre zurückversetzen und die Steinzeithöhle betreten.
Dass die Höhle echt ist, lässt sich zwar nicht bestreiten. Aber der Boden ist mit Linoleum belegt, die Wände werden mit Spots bestrahlt, und eine kühle Lautsprecherstimme begrüsst uns auf französisch, englisch und deutsch. Nicht nur das. Die Malereien, die wir zu sehen bekommen, diese unvergleichlichen Darstellungen von Stieren, Wildpferden und Steinböcken - sie alle sind nachgemacht. Denn die Höhle, in der wir uns hier befinden, ist eine Kopie.
Die eigentliche Grotte von Lascaux musste schon vor Jahren geschlossen werden. Die Bilder hätten den Grossandrang der Touristen nicht mehr ertragen; die Bakterien des Atomzeitalters hätten alles kahlgefressen, und so ist es seither nur noch ausgesuchten Wissenschaftlern erlaubt, die Höhle zu sehen: Einer pro Tag, fünf in der Woche, mehr nicht.
In nächster Nähe von Lascaux I hat man dafür Lascaux II installiert. Eine Grotte, die es schon gab, wurde originalgetreu ausgebaut, während zeitgenössische Künstler sämtliche Malereien so exakt wie nur möglich kopierten.
Wir haben das alles gewusst, als wir nach Lascaux kamen; wir wollten es trotzdem sehen, die Berühmtheit der Höhle lockte auch uns herbei. Doch jetzt, wo wir da sind und die Fälschung mit eigenen Augen erleben, erlahmt unser Interesse schon nach den ersten Minuten, und wir brechen die Besichtigung ab. Ziemlich betrogen fühlen wir uns.
Wieder im Freien, kommt uns der rettende Einfall, die richtige Höhle zu suchen. Wir entfernen uns von der Masse Mensch, so schnell uns die Füsse tragen, und nehmen den erstbesten Pfad ins Unterholz, von dem wir annehmen, er führe ans Ziel.
Der Lärm der Steinzeittouristen verebbt, wir sind auf einmal die Einzigen hier. Und schon bald folgt mitten im Wald eine Absperrung, ein hoher, mit Stacheldraht gesicherter Gitterzaun. Ein Tor bietet erwünschten Besuchern Einlass, für uns jedoch ist der Weg an dieser Stelle zu Ende. Wir blicken in das abgesperrte Gelände hinüber - und da, tatsächlich, nur ein Dutzend Schritte vom Zaun entfernt, führt ein Schacht in die Erde hinein. Aber dieser Schacht ist nicht aus Beton, sondern aus natürlichem Stein; an seinem Ende befindet sich eine eisenbeschlagene Pforte, und über ihr, mit schöner Schrift in den Stein gemeisselt, steht der Name Lascaux.
Es ist ein feierlicher Moment. Dass wir den legendären Ort nicht betreten können, macht uns in diesem Augenblick nicht so viel aus. Unsere Phantasie regt sich wieder.

«Ein Schacht führt in die Erde hinein, und über der Pforte steht der Name ‚Lascaux‘ - das echte Lascaux»
Teil 6 folgt am 14. August: Eine Antwort im Kartoffelkeller
«Im Land der Vergangenheit» stammt aus dem Buch von Nicolas Lindt «Die Freiheit der Sternenberger - Reiseberichte und Dorfgeschichten» (4. Auflage 2019). Der Autor unternahm die Reise in die Steinzeit Ende der 80er-Jahre, aber alles, was er beschreibt, ist in der französischen Dordogne auch heute noch zu entdecken.