75 Experten fordern Smartphone-freie Schulen in Deutschland
Ein Appell von 75 Expertinnen und Experten aus Pädagogik und Medizin warnt die neue Bundesregierung eindringlich davor, im Bildungssystem weiterhin auf Digitalisierung zu setzen. Sie fordern einen Kurswechsel – zum Wohl der körperlichen und geistigen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Foto: Florian Schmetz
Foto: Florian Schmetz

Initiatoren des Appells sind u.a. der Medienpädagoge Prof. Ralf Lankau (Hochschule Offenburg), der Ordinarius für Schulpädagogik Prof. Klaus Zierer (Uni Augsburg), der Psychiater Prof. Manfred Spitzer (Uni-Klinik Ulm), der bekannte Kinder- und Jugendarzt Dr. Uwe Büsching sowie der Lehrer und Schulbuchautor Dr. Mario Gerwig (Basel).

Sie fordern den Stopp der digitalen Bildungspolitik und Smartphone-freie Schulen. Die Gründe dafür sind vielfach erwiesen: Die wissenschaftlich umfassend dokumentierten negativen Folgen für Kinder und Jugendliche durch Frühdigitalisierung erfordern eine grundlegende Neuorientierung der Bildungspolitik. Daher schlagen die 75 Expert:innen in ihrem Appell Alternativen zur Nutzung digitaler Geräte und Medien in Kita, Grundschule und Unterstufe vor.

Erziehung zu selbstbewussten Kindern und Jugendlichen, so führen sie an, gelinge viel besser ohne Digitalisierung. Dann setzen die Jugendlichen die digitalen Medien z.B. ab der Mittelstufe reflektiert ein, statt von Tech-Konzernen, Geräten und Anwendungen abhängig zu werden.

Bildungskrise trotz (oder wegen?) Digitalisierung

Angesichts der jahrelangen Digitalisierungsinitiativen an Schulen ziehen die 75 Experten und Expertinnen eine ernüchternde Bilanz: Die schulischen Leistungen in den Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen sinken weiter, ebenso das Bildungsniveau. Unter dem Einfluss sozialer Medien verändern sich – wissenschaftlich belegt – Kommunikations- und Sozialverhalten. Gleichzeitig leiden Kinder und Jugendliche zunehmend unter psychischen Belastungen wie Konzentrationsstörungen, Angstzuständen, Depressionen und Einsamkeit, die von der Wissenschaft mit übermässiger Mediennutzung in Verbindung gebracht werden.

«Die Digitalisierung in Schulen hat nicht zu besseren Bildungsergebnissen geführt – im Gegenteil,» analysiert der Medienwissenschaftler Prof. Ralf Lankau, einer der Initiatoren des Appells. «Kinder geraten immer früher in die Abhängigkeit von digitalen Endgeräten und sozialen Netzwerken. Das beeinträchtigt nicht nur ihre Bildung und das demokratische Bewusstsein, sondern auch ihre Gesundheit und die Sozialkompetenz. So hilfreich Digitaltechnik in vielen Lebensbereichen sein kann, so kritisch muss sie beim Einsatz in Bildungseinrichtungen reflektiert werden: Die Digitalisierung macht unsere Kinder dümmer. Daher fordern wir, dass sich die Bildungspolitik wieder an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert.»

Internationale Trendwende – Deutschland hinkt hinterher

Laut dem aktualisierten UNESCO-Bildungsbericht rudern inzwischen 79 Bildungssysteme, also Länder wie Schweden, Spanien, Finnland, Lettland, Dänemark und auch 20 US-Bundesstaaten zurück: Diese Länder schränken die Digitalisierung in Schulen stark ein bzw. verbieten Smartphones mindestens an Grundschulen. Allein im Jahr 2024 haben 24 Länder in Europa und Nordamerika Smartphone-Verbote ausgesprochen! Doch die Ampelregierung beschloss Ende 2024 einen neuen Digitalpaket Schule und dachte sogar über einen Digitalpakt für Kitas nach – trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse über die negativen Auswirkungen von digitalen Endgeräten auf das Lernverhalten von Kindern und Jugendlichen. Deutschland muss sich unter der neuen Bundesregierung als achtzigstes Land dieser Trendwende anschliessen – zum Wohle der Kinder.

Investitionen in natürliche statt in künstliche Intelligenz!

Die 75 Expert:innen fordern ein Umdenken: Schulen sollen sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren – die Vermittlung einer ganzheitlichen Bildung, die kritisches Denken, soziale Kompetenzen und kulturelle Bildung in den Mittelpunkt stellt – kurz: natürliche Intelligenz.

Im Anhang zu ihrem Appell schlagen die 75 Expert:innen konkrete Massnahmen für eine pädagogische Wende vor, darunter:

  • Bildschirmfreie Grundbildung: Kitas, Kindergärten und Grundschulen bleiben in der pädagogischen Arbeit bildschirmfrei. Die negativen Erfahrungen mit Frühdigitalisierung in den skandinavischen Ländern, der fehlende Nutzen, das Ablenkungspotential und sogar negative Auswirkungen von digitalen Endgeräten im Unterricht für Lernprozesse, Aufmerksamkeit, Konzentration begründen den Einsatz analoger und manueller Medien und Techniken (Bücher, Schreiben auf Papier, Zeichnen). Der Digitalpakt Schule wird für Kita und Grundschule ausgesetzt.
  • Smartphone- und Social-Media-Regulierungen: An Kitas und Schulen wird ein bundesweites Verbot privater digitaler Endgeräte (v.a. Smartphones, Tablets, Wearables/Smartwatches) eingeführt. Die Mediennutzung im Unterricht in höheren Klassen wird altersabhängig beschränkt.
    Siehe dazu auch die Empfehlungen zu Bildschirmmedien für Kinder und Jugendliche von den ersten Lebensjahren bis zu Sekundarstufe II, 2024 veröffentlicht im Kinder- und Jugendarzt, dem Verbandsorgan des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands.
  • Mehr Lehrkräfte statt mehr Technik: Notwendig sind für Kitas, Kindergärten und Schulen mehr Erzieher:innen und qualifizierte Lehrkräfte, Psycholog:innen, Schulsozialarbeiter:innen. Das analoge Spiel und Naturerfahrung, der Ausbau von Sport, handwerkliches Lernen, Musik und Theaterspielen müssen schon in der Grundschule im Lehrplan verankert werden.
  • Unabhängigkeit von Tech-Konzernen: Werden digitale Geräte im Unterricht gebraucht, werden ausschliesslich von der Schule gestellte Geräte genutzt, der Zugang zu Webdiensten ist zu unterrichtsrelevanten Seiten (»White List») möglich. Nutzung von Open-Source-Software und Datenschutz-konformer IT in Schulen. Die IT-Branche darf keine Sitze in den Beratungsgremien der Bildungspolitik haben.

Stellungnahmen der Initiatoren des Appells:

«Die Entwicklung des kindlichen Gehirns braucht vielfältige reale Anreize statt einfältiges Wischen,» so Prof. Ralf Lankau. «Daher muss sich die Bildungspolitik an den Bedürfnissen der Kinder orientieren und nicht an den Interessen der IT-Industrie.»

Prof. Dr. Ralf Lankau ist Grafiker, Philologe und promovierter Kunstpädagoge. Seit 2002 lehrt er als Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. In seiner Forschung und Lehre beschäftigt er sich mit Gestaltungstechniken unter Einsatz analoger und digitaler Medien. Lankau ist zudem für seine kritische Auseinandersetzung mit der Digitalisierung im Bildungswesen bekannt. Mehrere Publikationen, u.a. »Kein Mensch lernt digital» (2017). Er gründete die Webseite und Tagungsplattform »futur iii» in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Bildung und Wissen.

Der Schulpädagoge Prof. Klaus Zierer erklärt: 

Die Konzepte der sogenannten digitalen Bildung kommen nicht aus der Erziehungswissenschaft, sondern aus der Industrie, die die KiTas und Schulen als Absatzmarkt definiert. Nicht Bildung, sondern Dehumanisierung des Unterrichts ist eine Folge. Der Tabletwahn, der nachweislich zu schlechterem Lernen führt, muss gestoppt werden. Motivation geht von den Erziehenden aus, nicht von technischen Geräten und Algorithmen. Ich fordere eine Re-Humanisierung im Bildungswesen, zurück zu den Erkenntnissen der Pädagogik für die Zukunft unserer Kinder. Unsere Forschung zeigt: ein begleitetes Smartphoneverbot wirkt sich unmittelbar positiv auf das Schulklima aus und führt zu besserem Lernen.

Prof. Dr. Klaus Zierer ist seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Uni Augsburg, davor seit 2011 Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni Oldenburg. Er studierte Grundschulpädagogik und arbeitete als Grundschullehrer, Promotion 2003 an der LMU München. Bekannt wurde er durch die Zusammenarbeit mit John Hattie, dessen Werk »Visible Learning» er ins Deutsche übersetzte. Zierer ist Autor zahlreicher Publikationen.

Der Gehirnforscher und Psychiater Prof. Manfred Spitzer fügt hinzu: 

Was ich in meinem Buch Digitale Demenz prognostizierte, ist leider eingetreten. Der übermässige Umgang mit digitalen Endgeräten schadet der Bildung der Kinder und erhöht damit ihr Risiko, später an Demenz zu erkranken. Weitere gesundheitliche Schäden reichen von Kurzsichtigkeit mit Erblindung im Alter über Bewegungsmangel und Übergewicht (mit Herzerkrankungen im Alter) bis zu Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen und Suchterkrankungen. iPads im Kindergarten sind aus medizinischer Sicht so etwas wie vorsätzliche Körperverletzung.

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer ist Neurowissenschaftler und Psychiater, bis Ende März 2025 Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm und seit 1998 ärztlicher Direktor der dortigen Psychiatrischen Universitätsklinik. In Veröffentlichungen und Vorträgen kritisiert er die Digitalisierung. Bücher: »Digitale Demenz» (2012), »Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert» (2015), »Die Smartphone-Epidemie, Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft» (2018). Dabei weist er nachdrücklich auf die gesundheitlichen und kognitiven Folgen dysfunktionaler Bildschirmmediennutzung bei Kindern und Jugendlichen hin.

Der Kinder- und Jugendarzt Dr. Uwe Büsching erlebte die Veränderungen bei Kindern in seinen Sprechstunden: «In Beratungsgremien der Bundesregierung, denen ich als Vertreter der Kinderärzte angehörte, habe ich aus meiner ärztlichen Praxiserfahrung immer wieder darauf hingewiesen, dass immer mehr digital geschädigte und süchtige Kinder mit verzweifelten Eltern in die Sprechstunde kommen. Darauf wurde nicht gehört. Es ist höchste Zeit für ein Umdenken.»
Dr. Uwe Büsching war 20 Jahre Mitglied des Vorstands des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte sowie 21 Jahre Sprecher des Ausschusses Jugendmedizin, inzwischen Ehrenmitglied. Ausserdem Mitglied im Beirat der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz. Als Projektleiter der BLIKK-Medien-Studie 2017 untersuchte Dr. Büsching mit bundesweit 80 Ärzten den Einfluss digitaler Bildschirmmedien auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Probleme unzureichender Vermittlung können nur didaktisch gelöst werden, nicht durch den Einsatz von Technik,»sagt der Schweizer Gymnasiallehrer und Buchautor Dr. Mario Gerwig. «Politisch Verantwortliche sollten also danach fragen, wo und wie Digitalisierung einen echten Mehrwert bringen kann. Unterricht bedeutet die gemeinsame Verhandlung einer Sache mit dem Ziel, diese umfänglich zu erschliessen und zu verstehen. Die Bildung tritt dabei vollkommen in den Hintergrund, wenn alle am Unterricht Beteiligten hinter ihren Geräten verschwinden.

Dr. Mario Gerwig, ist Lehrer für Mathematik und Chemie am Gymnasium Leonhard in Basel, Buchautor und Länderberater für das Mathematik-Schulbuch Neue Wege Schweiz (Westermann), Experte für Allgemeine Didaktik und Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Luzern.

Bündnis für humane Bildung: Hochschullehrer, Wissenschaftler und engagierte Bürger gründeten 2017 das »Bündnis für humane Bildung». Ihre Überzeugung lautet: Bildung lässt sich nicht digitalisieren! Digitale Instrumente können Bildungsprozesse nur unterstützen. Alternativen sind gefragt.

Website: http://www.aufwach-s-en.de

Bündnis für humane Bildung als Interessengemeinschaft (IG) vertreten durch: Prof. Dr. phil. Ralf Lankau und Peter Hensinger, M.A.

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